Der Geruch von Leichen und Jasmin
In "Der Garten der verlorenen Seelen" erzählt Nadifa Mohamed die Geschichte von drei Frauen, deren Schicksale sich im Somalia der 1980er-Jahre kreuzen
Die längste Zeit konnte man im Westen meinen, die Literatur aus Somalia sei ein Ein-Mann-Unternehmen, geschrieben in englischer Sprache von einem somalischen Autor, der seit vierzig Jahren im Exil lebt: Nuruddin Farah. Das Bild, das sich der Westen von dem geschundenen und vom Bürgerkrieg zerrütteten Land am Horn von Afrika macht, ist maßgeblich mitbestimmt von Farahs Romanen. Sie sind in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und folgen in ihren Sujets jeweils den Wendungen und Windungen der somalischen Politik, einer einzigen Abfolge von Katastrophen und blutigen Konflikten - vom Langzeit-Schreckensregime des Diktators und Putschgenerals Siad Barre über die Jahrzehnte der Machtkämpfe verfeindeter Clans bis hin zum Erstarken des radikalen Islamismus der Shabaab-Milizen und zum Aufkommen einer international organisierten Piraterie.
Von Anfang an hat es der heute fast siebzigjährige Farah zu seiner literarischen Lebensaufgabe gemacht, "mein Land am Leben zu erhalten, indem ich darüber schreibe". Diesem Anspruch sowie dem Weltruhm des Autors verdankt sich der Eindruck, Farah besitze das Monopol auf postkoloniale Geschichten aus Somalia, dem Land, das seit Langem an der Spitze aller Rankinglisten der sprichwörtlichen "Failed States" der Welt figuriert. Doch dieser Eindruck der literarischen Monokultur täuscht. Seit einigen Jahren verschafft sich eine weibliche literarische Stimme aus Somalia zunehmend Gehör: die junge Autorin Nadifa Mohamed.
Auch sie lebt im Exil, auch sie schreibt ihre Romane in englischer Sprache. Und auch sie möchte "ein breiteres Publikum über die Geschichte Somalias aufklären". Anders als Nuruddin Farah, der aus dem einst italienischen Südteil Somalias mit der Hauptstadt Mogadischu kommt, stammt Nadifa Mohamed aus Hargeisa in der einst britischen Nordprovinz Somaliland. 1986, im Alter von fünf Jahren, floh sie mit ihren Eltern vor dem drohenden Bürgerkrieg ins Exil nach England. In Oxford studierte sie Geschichte und Politik. Heute lebt sie als freie Autorin in London.
In ihren Romanen dringt Nadifa Mohamed tief in die Geschichte ihres Geburtslandes ein. Bereits ihr vielbeachteter, 2010 erschienener Erstlingsroman "Black Mamba Boy", der auf der Kindheitsgeschichte ihres Vaters in den 1930er-Jahren beruht und dessen Odyssee durch Afrika zur Zeit von Mussolinis Herrschaft in Ostafrika nachzeichnet, trug ihr Lob und Literaturpreise ein. "Der Garten der verlorenen Seelen", ihr zweiter und nunmehr auch auf Deutsch vorliegender Roman, erzählt gleichfalls von einer Zeit, die Nadifa Mohamed nicht selbst miterlebt hat und daher nicht aus eigener Anschauung kennt: Der Roman spielt 1987/1988, am Vorabend des Bürgerkriegs, als Hargeisa in die Hand aufständischer separatistischer Clans geriet, woraufhin der Diktator Barre die Stadt bombardieren ließ und die Bevölkerung in heller Panik über die Grenze ins nahe gelegene Äthiopien flüchtete.
Nuruddin Farah musste 1975, mit dreißig Jahren, ins Exil gehen, weil er wegen seiner Kritik an Barres Militärregime in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Er kannte aus eigenem Erleben das Land, über das er schrieb, denn er war dort aufgewachsen. Nadifa Mohamed hingegen, die Somalia bereits als Kind verlassen hatte, war darauf angewiesen, sich ihr Geburtsland aus den Erzählungen ihrer Eltern und Verwandten zu erschließen. Ihr Debütroman ist zu großen Teilen aus Tonband-Interviews mit ihrem Vater komponiert. Und für ihren zweiten Roman stützte sie sich nun vor allem auf die Erinnerungen und Erzählungen ihrer Mutter.
Doch diese Recherchen ließen ihr immer genügend Spielraum für narrative Phantasie und Fabulierfreude. Nuruddin Farah hat seine gelegentlichen Recherchereisen nach Mogadischu unter Lebensgefahr absolviert. Nadifa Mohamed hingegen kann völlig gefahrlos nach Hargeisa reisen, denn Somalia ist in zwei Teile zerbrochen. Die nördlichen Provinzen Somaliland und Puntland sind faktisch autonome Teilstaaten mit einer funktionierenden Regierung, während im Süden, wie man in Farahs Romanen nachlesen kann, Anarchie und Chaos herrschen und das Machtvakuum nicht nur in- und ausländische Konfliktparteien, sondern auch die internationale Kriminalität anlockt: Schiffsräuber, Menschenhändler, Schleuser, Organschmuggler, Drogendealer und Waffenschieber.
Im Gegensatz zum rechtsfreien Raum des kaputten Südsomalia betont Nadifa Mohamed im Gespräch immer wieder entschieden die einigermaßen geordnete und halbwegs friedliche Staatlichkeit des nördlichen Somaliland. Umso eindrücklicher liest sich im Roman "Der Garten der verlorenen Seelen" ihre Schilderung der Zustände in Hargeisa rund um den 18. Jahrestag von Siad Barres Machtübernahme (der im Roman nur "Oodweyne", "Großmaul", genannt wird). Von Rechtssicherheit keine Spur, im Gegenteil: Der Diktator kann sich nur mithilfe des Militärs und massiver Repression gegen Aufständische und abtrünnige Clanherren noch an der Macht halten. Ein Mittel der Machtsicherung ist es, Räume des Jubels zu organsieren. So etwa wird die Erinnerung an den Militärputsch vom 21.Oktober 1969 im ganzen Land mit Jubelfeiern begangen, zu denen die Bevölkerung in die Stadien kommandiert wird. Mit solch einer grotesken Zwangsfeier beginnt der Roman. Im Stadion von Hargeisa treffen die drei Heldinnen aufeinander, aus deren Sicht der Roman erzählt wird. Alle drei sind nicht freiwillig ins Stadion gekommen.
Die staatlichen Nachbarschaftswachen haben dafür gesorgt, dass sich niemand vor den verordneten Freudenausbrüchen drückt. Auch Kawsar, eine ältere Witwe, muss ins Stadion jubeln gehen, ebenso wie das zehnjährige Flüchtlingsmädchen Deqo, das zusammen mit anderen Kindern aus einem nahen Flüchtlingslager zu einer traditionellen Tanzdarbietung ins Stadion beordert worden ist. Während der Feier tanzt sie aber verwirrt aus der Reihe und wird von den Wachen verprügelt. Die zufällige Augenzeugin Kawsar protestiert dagegen und wird von der regimetreuen jungen Soldatin Filsan, die mit aller Härte ihren Dienst versieht, verhaftet und von ihr im Gefängnis so schwer misshandelt, dass sie sich die Hüfte bricht.
Im Eingangskapitel führt die Autorin also ihre drei unglücklichen Protagonistinnen, die drei Frauengenerationen repräsentieren, konflikthaft im Stadion von Hargeisa zusammen und zeigt, was sich daraus ergab. Die alte Frau Kawsar, in die Invalidität geprügelt, kann sich in der Folge nicht mehr aus ihrem Gartenhaus rühren. Die kleine Deqo, die im Tumult fliehen konnte, schlägt sich danach als Straßenkind durch, bis sie in den Haushalt einiger Prostituierter aufgenommen wird und dort zumindest anfangs Freundlichkeit erlebt. Und die blindlings gehorsame Soldatin Filsan wird von einem lüsternen Macho-General in die Schranken gewiesen und wird nach einigen katastrophalen militärischen Fehlschlägen ihres Lebens nicht mehr froh. Ihre Zweifel am Regime wachsen; dass sie arme Dörfler terrorisieren muss, weil diese angeblich mit den Rebellen im Bunde sind, will ihr nicht länger einleuchten.
Dass die zufällige Begegnung der Heldinnen im Stadion existenzielle Folgen für alle drei hat, wird erst im Schlusskapitel ganz deutlich, in dem die Protagonistinnen abermals schicksalhaft aufeinandertreffen. In den Kapiteln dazwischen werden die weiteren Erlebnisse der Frauen jeweils separat erzählt. Hier kann Nadifa Mohamed in vielen sprechenden Alltagsdetails die Vorgeschichten ihrer Heldinnen entfalten und ihre eigenen intensiven Recherchen vorführen. So erfahren wir, dass in Hargeisa nachts der Strom abgeschaltet und die Stadt verdunkelt wird, um den Rebellen und Clan-Guerillas das Leben schwer zu machen und um die Untaten des Militärs zu verhüllen.
Überhaupt spielen die Männer im Roman meist eine üble oder gar keine Rolle. Es gibt außer Bettlern und Pennern kaum mehr Zivilisten in Hargeisa. Die Männer sind entweder beim Militär oder bei der Polizei oder bei den Aufständischen jenseits der äthiopischen Grenze. Oder sie werden als tote Folteropfer von den Soldaten nachts auf den Marktplatz geworfen. Und Ärzte werden kurzerhand hingerichtet, wenn sie gegen die Zustände in den Krankenhäusern protestieren. War Nadifa Mohameds Debütroman "Black Mamba Boy" eine Vater-Sohn-Geschichte, so erzählt ihr Zweitling drei schmerzliche Mutter-Tochter-Geschichten. Das Straßenkind Deqo wurde von seiner unbekannten Mutter gleich nach der Geburt verlassen, clan- und daher schutzlos; Filsan verlor durch die Scheidung der Eltern die Mutter und wurde von ihrem grausamen Soldatenvater mit aller Brutalität aufgezogen; und Kawsar trauert immer noch um ihre einzige Tochter, die als Teenager einen schrecklichen Tod starb: Nach Schülerprotesten willkürlich verhaftet und auf dem Polizeirevier vergewaltigt, hat sich das Mädchen selbst verbrannt.
Alle drei Heldinnen werden in die blutigen Fehden zwischen dem Regime und Aufständischen aus den verfeindeten Clans hineingezogen, sie erleben am eigenen Leib, wie diese Kämpfe von Rebellen, Clan-Milizen und Regierungstruppen das Leben im Land vergiften und die Gesellschaft brutalisieren. Die trauernde Kawsar auf ihrem Krankenbett "versteht das ganze Land nicht mehr - Polizistinnen sind zu Folterknechten geworden, Tierärzte zu Ärzten, Lehrer zu Spionen, Kinder zu bewaffneten Rebellen". Am Ende lässt der Diktator die Stadt Hargeisa sogar bombardieren. Für die Protagonistinnen gibt es nur noch die Entscheidung zwischen Tod oder Flucht. Um nicht durch die Bomben der eigenen Regierung zu sterben, entschließen sie sich zur Flucht ins Nachbarland Äthiopien. Lieber lebendig in einem Flüchtlingslager als tot in der Heimat.
Der Roman erzählt die Überlebensgeschichte dreier starker und differenziert gezeichneter Heldinnen. Da ist das verwaiste Straßenkind, das sich nicht zur Kinderprostitution abrichten lässt, sondern davonläuft. Da ist die junge Soldatin, die zu den Aufständischen überläuft. Und da ist die alte Witwe, die am Ende eine Art Patchworkfamilie mit den beiden Jüngeren bildet, als Wunschgroßmutter mit Pseudotochter und Pseudoenkelin. Nadifa Mohamed kontrastiert die quälend präzise beschriebenen brutalen Geschehnisse mit poetischen Naturschilderungen der im blauen Mondlicht schimmernden Stadt. Dem Gestank der verrottenden Leichen in den Straßen werden die Düfte von Tamarinde und Jasmin in Kawsars Garten entgegengesetzt. Dass die Autorin etwas abrupt einen versöhnlichen Schluss für ihr tapferes Trio herbeizwingen will, fällt gegenüber ihrer so illusionslosen wie kraftvollen Erzählung nicht allzu sehr ins Gewicht.
Der Garten der verlorenen Seelen. Von Nadifa Mohamed. Aus dem Englischen von Susann Urban. C.H. Beck, München, 2014.