Inseln

An der Datumsgrenze

Wie es ist, zwischen Russland und den USA zu leben

Ich mag die Isolation und das arktische Klima. Seit sechs Jahren lebe ich auf Little Diomede, auch Yesterday Isle genannt, einer winzigen Insel zwischen Sibirien und Alaska, die zu den USA gehört. Sie ist so felsig, dass auf ihr keine Bäume wachsen. Die größere Nachbarinsel Big Diomede oder auch Tomorrow Island gehört zu Russland. Sie ist nur zwei Kilometer entfernt. Man könnte über das vereiste Meer hinüberlaufen. Zwischen den beiden Inseln verläuft die internationale Datumsgrenze, weswegen sie die Spitznamen Yesterday Isle und Tomorrow Island bekommen haben. Die Grenze hat vor allem eine politische Funktion: Sie trennt Russland und die USA.

Schon vor 150 Jahren lebten auf den Diomedes Inuit-Gemeinschaften. Nachdem Alaska 1867 von Russland an die USA verkauft wurde, hatten die Bewohner beider Inseln plötzlich unterschiedliche Staatsangehörigkeiten. Nach dem Zweiten Weltkrieg zwangen die Russen die Inuit auf Big Diomede, von dort fortzugehen, weil sie den Kontakt mit „den Amerikanern“ auf Little Diomede einschränken wollten. Auf der Insel wurde eine russische Militärbasis eingerichtet. Für die Bewohner von Little Diomede bedeutete das, dass sie den Kontakt zu ihren aufs russische Festland emigrierten Verwandten verloren und auf der Nachbarinsel nicht mehr jagen und leben konnten. Einige Leute, die vor rund vierzig Jahren trotzdem hinübergingen, wurden von den Sowjets gefangen genommen. Inzwischen gibt es auch eine Sprachbarriere. Die junge Generation auf Little Diomede kann die Sprache der Inuit nicht mehr. Es gibt nur noch etwa fünf alte Menschen bei uns, die imstande sind, die alte Sprache fließend zu sprechen.

Die Bewohner der Diomedes sind stark von der amerikanischen Kultur beeinflusst. Sie identifizieren sich mit den USA. Über Russland wissen die Bewohner nicht viel mehr, als dass die Insel, die sie aus ihren Fenstern sehen können, russisch ist.

Ich arbeite in der Schule des einzigen Inseldorfes, das auch Diomede heißt. Hier leben etwa siebzig Leute. Ich zog 2008 her, um als Lehrer zu arbeiten, und wurde vor zwei Jahren zum Schuldirektor ernannt. Die Lehrer bekommen immer nur Einjahresverträge. Kaum einer hält es länger aus. Es ist schwierig, die Insel zu verlassen. Bei gutem Wetter fliegt zweimal in der Woche ein Helikopter nach Alaska. Manchmal sitzt man also gegen seinen Willen auf der Insel fest. Mir persönlich macht das nichts aus. Ich bin glücklich, wenn ich Zeit fürs Lesen, Musik machen und E-Mails schreiben habe. Wenn ich „städtischeren“ Hobbys nachgehen würde, hätte ich hier schlechte Karten. Für unsere Entbehrungen werden wir nicht besser bezahlt. Aber es ist leicht, hier Geld zu sparen, da es nichts gibt, wofür man es ausgeben kann.

Wir haben zurzeit vier Lehrer, die nach Altersgruppen geordnete Klassen unterrichten. Dieses Jahr besuchen nur 24 Kinder die Schule. Früher waren es bis zu vierzig. Unsere Aufgabe in der Schule ist es, den Kindern Perspektiven für ihre Zukunft zu bieten. Leider ist eine universitäre Ausbildung selbst für unsere besten Schüler eine Herausforderung. Nur ein Mädchen, das ich unterrichtet habe, ist ans College gegangen. Das Studium und die Umstellung auf das Leben in einer Stadt fallen ihr schwer. Ein großes Problem fast aller Inselbewohner ist, dass sie das Gefühl haben, nicht in Gesellschaftsstrukturen jenseits der Insel zu passen. Oftmals sind sie nicht in der Lage, gut mit Leuten von woanders zurechtzukommen.

Das Leben hier bietet nur eingeschränkte Möglichkeiten. Zum Beispiel gibt es sehr wenige Jobs: Wir haben Einheimische, die als Schulköche, Hilfslehrer, Putzleute, Hausmeister, Lehrhilfen oder als Wachleute arbeiten. Eine traditionelle Arbeit war früher das „subsistence hunting“, bei dem man sich bei der Jagd selbst mit Fleisch versorgt. Das wird heute nur noch von den wenigsten gemacht. Etwa die Hälfte der Inselbewohner hat Arbeit. Der Rest finanziert sich ausschließlich über monatliche Beiträge der Inuit-Stammesorganisation ANCSA, die in den 1970er-Jahren immense Beträge von den USA erhalten hat. Ein weiteres Problem der Inselbewohner ist der Alkohol. Auf der Insel wird inzwischen kein Alkohol mehr verkauft, aber wenn die Menschen aufs Festland fahren, gehen sie ständig in Bars und betrinken sich. Ihr Körper kommt damit nicht zurecht. Sie sind anfälliger für Alkoholismus.

Trotz dieser Probleme bleiben die meisten auf der Insel. Hier müssen sie keine Miete zahlen und werden vom ANCSA finanziell unterstützt. Sonst würden viele wahrscheinlich weggehen.

Protokolliert von Shou Aziz