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„Vielleicht bin ich getrieben“

Sollten wir mehr aus unserer Freizeit herausholen? Ein Gespräch mit dem Guardian-Chefredakteur und Hobby-Pianisten

Herr Rusbridger, Sie sind Chefredakteur der englischen Tageszeitung The Guardian und ein außerordentlich beschäftigter Mann. Trotzdem haben Sie sich vorgenommen, als Amateurpianist Chopins komplexe Ballade Nr. 1 in g-Moll innerhalb eines Jahres zu meistern, und ein Buch über Ihr Experiment verfasst. Wie kamen Sie darauf?

Vor einigen Jahren nahm ich an einem Klavierkurs in Frankreich teil. Dort spielte jemand die Ballade, der wie ich in seiner Jugend mit dem Klavierspielen aufgehört und erst vor Kurzem wieder damit angefangen hatte. Es wollte mir einfach nicht einleuchten, wie ein Amateur es im fortgeschrittenen Alter fertigbringen konnte, ein so kompliziertes Stück zu lernen. Ich beschloss, mir jeden Tag mindestens zwanzig Minuten zum Üben zu nehmen, egal was sonst noch los wäre.

Und warum haben Sie ein Buch darüber geschrieben?

Ich habe mich viel mit der Frage beschäftigt, was es für den professionellen Journalismus bedeutet, wenn jeder Amateur seine eigenen Texte veröffentlichen und verbreiten kann. Dann wurde mir klar, dass viele Parallelen zur Welt der Amateurmusik exis­tieren. Im Internet gibt es Tausende von Amateurvideos, die von mehr Menschen gesehen werden als jede professionelle Aufführung. Ich merkte, wie viel Spaß es mir macht, mit Freunden zu musizieren, und dass unvollkommene Darbietungen von Amateuren einen eigenen Wert haben – im Gegensatz zum passiven Rezipieren perfekter Performances.

Sie haben das Stück ja nicht einfach nur im stillen Kämmerlein gespielt, sondern es öffentlich vorgetragen. Ging es Ihnen auch um Anerkennung?

Ich dachte, um ein Buch darüber zu schreiben, müsste ich die Ballade vor genügend Leuten spielen, die bezeugen können, ja, er kann es.

Im Buch vergleichen Sie Ihr Vorhaben mit dem Versuch, das Matterhorn zu besteigen. Ist Klavierspielen für Sie wirklich nur ein Hobby oder auch eine Art von Arbeit?

Das kann wahrscheinlich nur ein Psychologe beantworten. Für mich fühlt sich das Klavierspielen wie eine Flucht aus meinem ansonsten sehr straff organisierten Leben an. Für mein Buch habe ich sogar einen renommierten Hirnforscher gefragt, ob sich die Chemie in meinem Gehirn verändert, wenn ich Klavier spiele, weil ich mich danach so viel besser und fitter für den Tag fühle. Aber natürlich habe ich mir ein lächerlich schweres Stück ausgesucht, um dann wie ein Besessener daran zu arbeiten. Zu vermuten, dass da das Alphamännchen in mir hervorscheint, liegt nahe.

Wie sah in dieser Zeit ein normaler Tag für Sie aus?

Die 18 Monate, die ich letztendlich dafür brauchte, das Stück zu lernen, waren eine verrückte Zeit in der Geschichte des Guardian – angefangen von den Verhandlungen mit Wikileaks über die Veröffentlichung von US-Regierungsdokumenten bis zu dem Skandal um die illegalen Abhörpraktiken der Zeitung News of the World. Dazu kamen Kriege, Unruhen, Tsunamis und eine Wirtschaftskrise. Meine Arbeitstage begannen um 7 Uhr 30 und dauerten regelmäßig bis Mitternacht.

Braucht es noch ein Buch, das uns ermutigt, die Zeit neben der Arbeit effizienter zu nutzen? Machen wir nicht eigentlich schon viel zu viel?

Es kann schon sein, dass ich mich getrieben fühle. Das hat auch etwas mit dem Alter zu tun. Als ich jünger war, sagte ich mir, mit 65 gehe ich in Rente, spiele Beethoven-Sonaten, lese endlich „Middlemarch” und lerne malen. In meinen Vierzigern dachte ich dann: Warum soll ich das auf später verschieben?

Haben Sie von Ihrem Experiment etwas mitgenommen, das Ihnen im Beruf nützlich ist?

Wenn man für andere spielt, lernt man, zur Ruhe zu kommen und zu überlegen, was man kommunizieren will und wie. Das hilft mir heute auch im Job.

Würden Sie gern mehr Zeit für die Musik haben?

Ich bin kein besonders guter Pianist und deshalb glaube ich nicht, dass es mir mehr Befriedigung verschaffen würde, zwei oder drei Stunden am Tag zu spielen. Für mich sind die Minuten am Klavier einfach eine wunderbare kleine Oase, eine abgeschottete Zeitinsel.

Das Interview führte Stephanie Kirchner