Schlaflos in Tarabya
Wie sich die ersten Stipendiaten an der neu gegründeten Kulturakademie von der Lebendigkeit Istanbuls inspirieren lassen
"Am Anfang war ich überfordert von dieser Schönheit - die Villa, der Ausblick." Die Autorin Marianna Salzmann, preisgekrönte Hoffnung der deutschen Theaterszene, blickt von ihrem Schreibtisch hinaus auf den majestätisch dahinfließenden Bosporus. "Ich konnte nicht schlafen, war vollkommen euphorisch, weil mich Instanbul so gefangen genommen hat." Die 27-Jährige ist eine der ersten Stipendiatinnen der Kulturakademie Tarabya, in der seit September 2012 Künstler aller Sparten untergebracht sind. Sie wohnen in der historischen Sommerresidenz des deutschen Botschafters in Tarabya im Norden Istanbuls.Weiße Holzvillen und ein verwunschener Wald direkt am Meer - eine absolute Rarität in der rasant wachsenden Metropole. Der osmanische Sultan Abdülhamid II. schenkte das Grundstück 1880 dem deutschen Kaiser Wilhelm II. Unter einer Bedingung: Das Gelände sollte diplomatisch genutzt werden.
Das bereits 2008 vom Bundestag bewilligte Vorzeigeprojekt Auswärtiger Kulturpolitik drohte zu scheitern, als das Auswärtige Amt zwei Jahre später vom ursprünglichen Konzept abrückte. Nur ein kleiner Teil des Gebäudekomplexes sollte noch zur Unterbringung von Künstlern und Wissenschaftlern dienen. Am Ende setzten sich die Befürworter der Akademie durch, die heute unter der Leitung der Deutschen Botschaft und der kuratorischen Verantwortung des Goethe-Instituts steht. "Es wurden Künstler ausgewählt, die einen Bezug zur Türkei haben, sich mit dem Land auseinandersetzen wollen", sagt Claudia Hahn-Raabe, Leiterin des Goethe-Instituts Istanbul. Sie hofft, dass sich die Stipendiaten mit der lokalen Kulturszene vernetzen.
Mit einem dokumentarischen Roadmovie über die E5, die "Gastarbeiterroute" zwischen Deutschland und der Türkei, plant die Filmemacherin Marina Priessner,die Verbindung beider Länder ganz konkret zu erzählen. Seit den 1960er-Jahren pendelten dort Hunderttausende jährlich zwischen neuer und alter Heimat. Ihren Aufenthalt in Tarabya nutzt Priessner, um passende Protagonisten zu finden und einen Trailer zu drehen. "Aus einer privilegierten Position heraus erlebe ich hier den Alltag, die politischen Lager, die Widersprüche. Je mehr ich die Türkei kennenlerne, umso komplexer wird sie für mich", sagt sie. Der Lyriker Gerhard Falkner hat sich mit der Türkei bisher nur aus der Ferne beschäftigt, in seinen Gedichten über das Fries des Pergamonaltars. "Istanbul ist ein Schatzhaus - zwei Kontinente, Häfen, eine wachsende Skyline und eine jahrtausendealte Geschichte", schwärmt Falkner. Im Moment arbeitet er an einem Langgedicht über die Stadt. Zusammen mit türkischen Musikern und Videokünstlern soll daraus eine Performance werden.
Die Stipendiaten pendeln zwischen zwei Extremen: dem ruhigen, eleganten Tarabya und dem 15 Kilometer entfernten pulsierenden Stadtzentrum mit seinen extremen sozialen Klüften. Vor der Eröffnung der Akademie wurde diese Entfernung oft bemängelt. Eine Meinung, die der Dichter Falkner nicht teilt: "Gerade weil wir außerhalb wohnen, sind wir gezwungen, die Stadt zu erkunden. Gleichzeitig kann man auf Tarabya sehr konzentriert arbeiten." Teils irritierend, teils inspirierend ist für die Bewohner auf Zeit die Geschichte des Ortes, denn auf dem Gelände der Residenz befindet sich auch ein deutscher Soldatenfriedhof. "Es ist schon merkwürdig, neben 600 Soldatengräbern im Bett zu liegen", sagt Filmemacherin Priessner. "Da ruht ein Stück deutsch-türkischer Geschichte, deren Aufarbeitung noch aussteht, zum Beispiel die deutsche Beteiligung am Genozid an den Armeniern." Zukünftige Stipendiaten haben angekündigt, sich diesem Thema zu widmen.
Bei einer szenischen Lesung von Marianna Salzmanns Theaterstück "Weißbrotmusik" reicht die Besucherschlange bis auf die Straße. Auf der Bühne will der junge Deutsch-Türke Sedat in die erträumte Heimat Türkei: "Denn da gibt es keine Bürokratie!" Das Publikum lacht schallend. "Ich bin so froh, dass ihr da gelacht habt", sagt die Autorin bei der anschließenden Diskussion. "In Deutschland schien niemand begriffen zu haben, wie furchtbar komisch das ist."