„Nehmt euch Amerika zum Vorbild“
Die Wirtschaftskrise hat zu einer Machtverschiebung in Europa geführt. Sollte Deutschland jetzt eine Führungsrolle übernehmen?
Über sechzig Jahre lang profitierte Deutschland von der Fürsorge der Hegemonialmacht Amerika. Es waren die USA, die dafür sorgten, dass die deutschen Kriegsschulden erlassen und die britisch-französischen Pläne zur Deindustrialisierung des Landes verworfen wurden. Es waren die Entscheidungsträger in Washington, die sich für die Vision eines europäischen Binnenmarktes einsetzten. Und es war die auf dem amerikanischen Markt generierte Nachfrage für Produkte aus Übersee, die es deutschen Unternehmen erlaubte, sich um nichts anderes kümmern zu müssen, als die effektive Herstellung ihrer Erzeugnisse. Nicht zuletzt ob der schützenden Hand, die Amerika stets über Deutschland hielt, fällt es den Eliten in Berlin heute schwer, sich zu orientieren. Eine Welt, in der weder die USA noch irgendein anderer Staat weiterhin die Nachfrage garantieren kann, die nötig ist, um den Weltmarkt nachhaltig anzutreiben, ist neu für sie. Dabei bräuchte es gerade jetzt eine entschiedenere deutsche Politik. Eine, die nicht nur autoritär, sondern hegemonial agiert und sich damit ein Beispiel am Amerika vergangener Tage nimmt. Europa braucht ein Deutschland, das bereit und willens ist, eine solche Transformation zu vollziehen. Und auch Deutschland selbst braucht den Wandel.
Doch wie würde sich ein hegemoniales Deutschland überhaupt verhalten? Vor allem würde es sich enthusiastisch für einen gesamteuropäischen Sanierungsplan einsetzen. Einen Plan, der die Wirtschaft des Kontinents durch die Generierung neuer Nachfrage wiederbeleben könnte. Deutschland würde so agieren wie die USA der 1950er-Jahre, das heißt eine vorausschauende und aktive Politik vertreten, die Europas Wirtschaft durch das "Recycling" von Mehreinnahmen wieder ausbalancieren könnte. Zwar hat Deutschland nicht die Mittel, so wie die USA in die Rolle eines riesigen Staubsaugers zu schlüpfen, der die Nettoexporte des Rests der Welt auf Kosten stetig wachsender Schulden aufsaugt. Trotzdem könnte die Bundesrepublik Wege finden, große Mengen vorhandener Sparanlagen sinnvoll in der Peripherie zu investieren, um dort für Arbeitsplätze und Einkommen zu sorgen. Dies würde nicht nur die Aufnahme neuer Schulden verhindern, sondern auch die innereuropäische Nachfrage stabil halten, die deutsche Unternehmen brauchen, um inner- und außerhalb Europas wettbewerbsfähig zu bleiben. Es wäre ein Fehler, weiterhin alles auf die Karte der Schuldentilgung zu setzen, ohne dabei einen Plan zu haben, wie man der dadurch verursachten Rezession entgegenwirken könnte. Eine solche Politik würde den Schulden-Einkommensquotienten in die Höhe treiben und die sozioökonomische Dynamik Europas schwächen.
Aber wie können diese Ziele überhaupt erreicht werden, wenn Deutschland augenscheinlich nicht in der Lage ist, eine Neuauflage des Marshallplans auf den Weg zu bringen? Zwei Dinge sind klar: Erstens sollte Deutschland nicht auf die Kooperation nationaler Regierungen mit Brüssel setzen. Es war gerade diese politische Schnittstelle, die es ermöglichte, dass europäische Strukturfonds ineffizient genutzt und korrumpiert werden konnten. Zweitens ist es sinnlos, sich in Richtung einer föderalen Lösung zu bewegen, da viele europäische Völker nicht bereit sind, diesen Schritt zu gehen. Gibt es also eine Alternative für Deutschland? Natürlich gibt es die.
Berliner Politiker sollten sich jene amerikanischen Reformer zum Vorbild nehmen, die Nachkriegsdeutschland vor vielen Jahren auf den Weg der Erholung brachten. Europa braucht seine eigenen, von neuen Finanzinstrumenten gestützten wirtschaftlichen und sozialen Reformen. Deutschland könnte einen solchen Reformplan mit Hilfe der Europäischen Investitionsbank (EIB) umsetzen, die in der Vergangenheit bewiesen hat, dass sie Kapital mit Hilfe von niedrig verzinsten Anleihen in Richtung Europa lenken kann. In Zusammenarbeit mit der Europäischen Zentralbank (EZB) hätte eine EIB-EZB-Partnerschaft die Möglichkeit, Berge von bisher unbewegtem Geld zu investieren - ohne Einmischung von Mitgliedstaaten oder Vertragsänderungen. Doch dazu müsste sich das kopflose Deutschland der Gegenwart in ein aus Selbstinteresse und Verantwortungsbewusstsein hegemoniales Deutschland verwandeln, das sein politisches und wirtschaftliches Gewicht nicht länger dazu nutzt, unaufhaltsame Veränderungen, wie zum Beispiel eine echte Bankenunion, zu blockieren. Stattdessen sollte es die Verantwortung für einen schnellen Wandel tragen, der gemeinschaftlichen Wohlstand für ganz Europa garantieren kann.
Aus dem Englischen von Kai Schnier