Was machst du? Wie Menschen weltweit arbeiten

Meister der Pünktlichkeit

Eines geht in Japan gar nicht: zu spät kommen 

Wer wie ich in Japan lebt, weiß, dass Zeitgefühl nicht universell ist. Als Lehrer an einer Schule im japanischen Ky?sh? ist es mir schon mehr als einmal passiert, dass ich eine Minute vor Arbeitsbeginn auftauchte und trotzdem Ärger mit meinem Vorgesetzten bekam. Unsere Uhren gingen synchron. Unser Sinn für Pünktlichkeit leider nicht. In Japan gibt es kaum eine wichtigere Tugend als die (Über-)Pünktlichkeit. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, ist für den ersten Eindruck von essenzieller Bedeutung. Die Japaner schätzen Leistungsbereitschaft - und Pünktlichkeit ist ein Ausdruck dieser Bereitschaft.

Wer zu spät kommt, der sendet die falschen Signale und gilt als gleichgültig und respektlos. Meine Erfahrungen sind kein Einzelfall. Einer meiner Freunde arbeitet in einem Bildungsausschuss, in dem vor einiger Zeit eine Stelle neu besetzt werden sollte. Auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch geriet einer der Bewerber in einen Stau und meldete sich telefonisch, um sich für die Verspätung zu entschuldigen. Der Vorsitzende sagte ihm, er brauche sich nicht weiter zu beeilen. Das Vorstellungsgespräch sei abgesagt. Wie könne man mit jemandem, der nicht in der Lage sei, eine kurze Autofahrt zu planen, ein Arbeitsverhältnis eingehen?

Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass japanisches Zugpersonal im Falle einer Fahrplanänderung oder Verspätung unterschriebene Entschuldigungsschreiben an Pendler verteilt, die diese ihren Vorgesetzten im Büro zeigen können.Noch ein Beispiel für die japanische Überpünktlichkeit: Wenn ich meinem Vorgesetzten verspreche, dass ich "am Dienstag" mit der Arbeit, die ich für ihn erledigen soll, fertig sein werde, dann erwartet er schon am frühen Dienstagmorgen die Papiere auf seinem Schreibtisch. "Am Dienstag" heißt für ihn "am Montagabend", genauso wie ein japanisches 9-Uhr-Meeting eigentlich ein 8.55-Uhr-Meeting ist.

Kein Wunder, dass in vielen japanischen Büros eine Art unsichtbare Spannung in der Luft liegt.Jeder Aspekt des japanischen Lebens, vom Blumenschmuck bis zur traditionellen Teezeremonie, hat einen perfektionistischen Touch. Bis ins Büro setzt sich dieser Hang zur Vollendung fort. So sind die Kontaktadressen im Cc-Feld einer E-Mail nicht willkürlich angeordnet, sondern folgen der Führungsstruktur im Unternehmen. Die Japaner sind überzeugt, dass Dinge präzise erledigt werden müssen. Ausländischen Unternehmen und Angestellten, welche die japanische Geschäftsetikette nicht genau kennen, stehen sie deshalb oft skeptisch gegenüber. Es gibt jedoch eine Ausnahme in Sachen Pünktlichkeit und die betrifft das Ende des Arbeitstages: Während japanische Arbeitgeber in den Morgenstunden und über den Tag sehr pedantisch mit dem Thema Zeit umgehen, machen sie nur selten pünktlich Feierabend und halten ihre Angestellten so lange am Arbeitsplatz fest, wie es ihnen gefällt. Ganz ohne Entschuldigung.

Dazu muss man wissen, dass japanische Angestellte prinzipiell nicht nach Hause gehen, bevor ihr direkter Vorgesetzter das Büro verlässt. Zuerst geht das obere Management, dann zieht sich die Prozedur dominoartig durch das ganze Büro bis zu den Mitarbeitern, die in der Hierarchie ganz unten stehen. Denn vor seinem Chef zu gehen, bedeutet, dass man nicht gewillt ist, alles für den Erfolg des Unternehmens zu tun. Viele Angestellte verschieben nur noch die Papiere auf ihrem Schreibtisch, bis der Chef endlich weg ist, manchmal bis spät in den Abend. Es gilt als unverantwortlich, wenn man bei dieser Posse nicht mitspielt.

Gleichzeitig kämpfen die Japaner mit einer schlechten Work-Life-Balance und schlechter Arbeitseffektivität. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass der japanische Arbeitstag für viele Angestellte zwölf Stunden hat, aber nur acht Stunden tatsächlich aus Arbeit bestehen. Die zwei goldenen Regeln des japanischen Arbeitslebens sind also folgende: Pünktlich kommen bedeutet fünf Minuten früher da sein; pünktlich gehen heißt fünf Stunden länger im Büro bleiben. 

Aus dem Englischen von Kai Schnier