Mehr oder weniger freie Liebe
Der israelische Schriftsteller Amos Oz erzählt aus der Kibbuz-Welt seiner Jugend
Zvi Provisor ist ein besonderer Gärtner. Einerseits sorgt er seit zwanzig Jahren dafür, dass es im Kibbuz Jikhat menschenfreundlich grünt und blüht, andererseits ist er ein übellauniger Rabe. Er pickt nur die schlechtesten Nachrichten aus dem Radio und erzählt jedem, den er trifft, Unglücksfälle und Verbrechen - von Washington bis Kambodscha. Spezielle, meist markante Charaktere gibt es zuhauf in Amos Oz' neuem Buch "Unter Freunden", das ihn in seine Jugend zurückführt. Nach dem Selbstmord der Mutter ging Oz mit 15 Jahren in ein Kibbuz im Norden Israels und lernte eine eigene soziale Welt kennen. Deren wichtigste Prinzipien sind ein Leben ohne Privateigentum, gemeinsame Beschlüsse in allen Bereichen und mehr oder weniger freie Liebe. Die Familie spielt eine untergeordnete Rolle und die Kinder übernachten im Kinderhaus. Es ist eine Welt, der man die Herkunft aus sozialistischen Idealen anmerkt.
Mit dem Sowjetkommunismus sollte man sie aber nicht verwechseln, lebt die Kibbuz-Idee doch vom Prinzip der Freiwilligkeit. So handelt der Roman immer wieder von der Frage, ob einer geht oder bleibt. Ein in Italien lebender Onkel macht dem jungen Protagonisten Jotam den Vorschlag, er könne zu ihm kommen und Maschinenbau studieren. Im Kibbuz sollen die Jungen nach dem Militär erst mal drei Jahre aufs Feld. Jotam möchte das nicht, er hält es nicht mehr aus, will weg. Aber Maschinenbau? Aufmerksam folgt Oz seinen Zweifeln. Je länger man sich in der Welt der Oz'schen Erzählungen aufhält, desto auffälliger wird, dass die Struktur des Kibbuz ein überraschend fruchtbarer Erzählrahmen ist: ein sich kaum verändernder, aber exzentrischer Hintergrund, vor dem die einzelnen Figuren scharf umrissen werden können, bevor sie unmerklich verschwinden - um dann in Nebenrollen wieder aufzutauchen. Da ist zum Beispiel der Geschichtslehrer David Dagan, der streng auf die Einhaltung der Kibbuzprinzipien achtet - auch in der Liebe.
Er hat mit vier verschiedenen Frauen aus Jikhat Kinder gezeugt und je eines mit zwei Frauen aus einem anderen Kibbuz. Dann zieht die knapp 17-jährige Edna zu ihm, die bis vor Kurzem seine Schülerin war. Als deren Vater seine Tochter zurückholen will, hält Dagan dagegen: Edna sei kein Wasserkessel, den man irgendwo abholen könne. Edna bleibt zunächst, doch nur kurze Zeit später trennen sich sie und Dagan wieder. Schmerzliche und schöne, immer etwas verhaltene Liebeserlebnisse stehen oft im Zentrum dieser Geschichten. Lapidar verabschiedet sich der Ex-Fallschirmflieger Boas von seiner Frau Osnat. Er werde zu seiner Geliebten ziehen. Die verlassene Ehefrau schreibt daraufhin der Liebhaberin ihres Mannes einen Brief, sie solle auf seine Ernährung achten. Etwas später im Roman taucht die Figur Osnat noch einmal auf. Inzwischen hat sie sich des alten niederländischen Juden Martin van den Bergh angenommen. Er ist einer der Gläubigen aus der Gründergeneration, nikotinsüchtig und schwer lungenkrank.
Er bewegt sich fort, indem er einen Einkaufswagen schiebt, auf dem sein Sauerstoffballon liegt. Martin hatte sich zum Schuster ausbilden lassen, weil die Gemeinschaft einen brauchte. Jetzt beschließt der Gesundheitsausschuss, dass die Arbeit mit Leder und Chemikalien für ihn zu viel ist. Martin soll aufhören. Als er es tut, beginnt er zu sterben. Immer wieder schildert Oz auch den Gegensatz zwischen konservativen und veränderungswilligen Kibbuz-Bewohnern. Veränderungswillig sind jene, die sozialistische Prinzipien gegen neue, bürgerlichere Familien-Vorstellungen austauschen wollen, aber auch Figuren wie Nina Sirota, die möchte, dass Männer mehr in Kinderhaus, Küche und Wäscherei mitarbeiten. Zwischen den Fronten steht der Leiter des Kibbuz, Joav Karni, der immer erst sagt, dass etwas aus irgendwelchen Gründen nicht geht, dann aber nach einem Ausweg sucht. Jeder ist anders, in dieser Land-groß-WG, die genügend Platz lässt für Individualismus, aber zu wenig, dass man ihn ohne Aufsicht leben könnte. Als Joav eines Nachts Wache schiebt, begegnet ihm Nina Sirota.
Sie will keine Nacht länger bei ihrem Mann schlafen. Joav soll ihr einen Platz zum Übernachten besorgen. Er, der früher für sie schwärmte, ist zu überrascht, um etwas zu wagen. Doch die beiden werden bei ihrer Unterhaltung von einer Witwe gesehen, die gleich eine Affäre vermutet. Die Freiheit im Kibbuz reicht bis zu den Mäulern der anderen. Nur angedeutet werden die Leichen im Keller so mancher Kibbuzim: die Ruinen von Deir Aschlut, dem arabischen Dorf, das ganz in der Nähe von Jikhat liegt. Vage werden Kämpfe erwähnt, was genau passiert ist, erfährt man nicht. "Unter Freunden" ist, aus einer sich stetig verändernden, "kollektiven" Wir-Perspektive erzählt, ein leichterer, novellistischerer Zugang zu Oz' Kibbuz-Welt als sein klassischer, bald fünfzig Jahre alte Kibbuz-Roman "Ein anderer Ort". Sprachlich aufgefrischt und lapidarer, aber auch humoristischer, geht es wieder um die Zeit, in der Oz jung war, sich die klassische Kibbuz-Welt aber schon zu modernisieren und zu verschwinden begann.
Unter Freunden. Von Amos Oz. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2013.