„Junge Menschen leben nicht mehr für die Arbeit“
In wirtschaftlich harten Zeiten verändert sich die Einstellung zur Arbeit. Ein Gespräch mit dem Psychotherapeuten über den Wunsch nach Sicherheit und Selbstverwirklichung
Herr Young, warum definieren wir uns so sehr über die Arbeit?
Ich glaube nicht, dass es Teil der menschlichen Natur ist, sich über Arbeit zu definieren. Das ist ein kulturelles Phänomen und unterscheidet sich von Land zu Land, von Familie zu Familie. In wettbewerbsorientierten, westlichen Ländern gehören Arbeit und Status zur Kultur und damit auch zur Identität. In anderen Ländern und bestimmten kleineren Gemeinschaften definieren sich die Menschen eher über Familie und Beziehungen. Ich zum Beispiel bin in einer Kleinstadt im Staat Maine aufgewachsen, wo Erfolg nicht so wichtig war.
Was passiert mit Menschen in einem besonders wettbewerbsorientierten Arbeitsumfeld?
Oft kommen sie mit dem Stresslevel nicht zurecht und verlassen deshalb zum Beispiel eine Stadt wie New York wieder, wo Erfolg alles ist. Andere, die dort bleiben, bekommen zu spüren, dass sie einen geringeren Status haben. Diese Menschen kommen oft mit dem Gefühl in meine Praxis, nicht genügen zu können. Sie halten sich für Versager.
Welche Krankheiten werden durch Arbeitsbedingungen verursacht?
Die häufigste psychische Erkrankung ist die Depression. Es gibt Menschen, die sich andauernd mit anderen vergleichen und sich selbst dabei schlecht machen. Diese Art zu denken führt in der Regel zur Depression. Dann gibt es Menschen, die sich sehr anstrengen, um erfolgreich zu sein - mehr, als sie emotional verkraften können. Die Folge sind stressbedingte Krankheiten oder Angststörungen. Die Betroffenen setzen sich so unter Druck, dass sie alle ihre Energiereserven verbrauchen und ausbrennen.
Sind Krankheiten wie das Burn-out-Syndrom tatsächlich den aktuellen Arbeitsumständen geschuldet oder gab es sie schon früher?
Ich habe das Gefühl, dass Arbeit heute viel häufiger krank macht. Es herrscht mehr Wettbewerb als früher; Leistung und Geld sind wichtiger geworden. Deshalb häufen sich auch Fälle von Burn-out. Trotzdem erkennen Psychologen und Psychiater Burn-out in der Regel nicht. Wenn ein Patient Symptome einer Depression zeigt, halten sie ihn für depressiv. Burn-out sollte als eigene Krankheit gelten.
Entwickeln Menschen in unsicheren Arbeitsverhältnissen, etwa durch befristete Verträge, ähnliche Symptome?
Ein Mensch in prekären Verhältnissen, der zum Beispiel wegen der Rezession fürchten muss, die Arbeit zu verlieren, empfindet ein Gefühl der Hilflosigkeit. Ein Mensch, der auf Burn-out zusteuert, glaubt dagegen immer noch, dass er alles in den Griff bekommt, wenn er nur noch härter arbeitet.
Wie wichtig ist die Einstellung zur Arbeit?
Die eigene Haltung ist ein entscheidender Punkt. Die Probleme meiner Patienten sind meist keine Folge der Arbeitsbedingungen, sondern haben mit Verhaltensmustern zu tun, die sich früh entwickeln und von einem Job zum anderen wiederholen. Wir nennen sie "Schemata". Eine meiner Patientinnen wuchs mit einem Vater auf, der sie verbal und körperlich misshandelte. Wenn sie einen Fehler machte, nannte er sie dumm. Wenn er schlecht gelaunt war, schlug er sie auch. Vor Angst schloss sie sich im Badezimmer ein oder versteckte sich irgendwo. Die Mutter hat die Tochter nicht körperlich misshandelt, aber ständig kritisiert. Immer musste sich meine Patientin als Kind rechtfertigen. Heute ist sie um die 40 Jahre alt und hat der Arbeit unterschwellig das Gefühl, beweisen zu müssen, dass sie nicht dumm ist.
Wie zeigt sich das?
Wenn der Firmenchef nur einen Vorschlag macht, interpretiert sie das schon als Kritik an ihrer Person und verteidigt sich mit einer langen Antwort. Dabei weist sie anderen Menschen Schuld zu, was die Mitarbeiter befremdlich finden. Sie hat deshalb schon oft ihren Job verloren. Dabei stehen ihre Ängste in keiner Beziehung zu ihrer Leistung. Sie ist eine Spitzenkraft im Investmentbanking.
Gibt es nach Ihrer Erfahrung kulturelle Unterschiede im Hinblick auf die Einstellung zur Arbeit?
Ja. Wenn eine bestimmte ethnische Gruppe erstmals nach New York kommt, hält die erste Generation an den Werten der Herkunftskultur fest. Wenn es in ihr wichtig war, hart zu arbeiten, arbeiten sie hart. Wenn in ihr Arbeit entspannt gesehen wurde, verhalten sie sich auch entsprechend. Die nächste Generation assimiliert sich. Es gibt aber Ausnahmen. Asiaten sind selbst zwei Generationen später oft leistungsorientierter als der durchschnittliche Amerikaner.
Sehen junge Menschen Arbeit anders als frühere Generationen?
Die Arbeitsethik hat sich verändert. Die junge Generation will genug verdienen, um gut zu leben, aber sie muss nicht mehr das beste Auto haben oder das größte Haus. Status ist heute weniger wichtig. Die Betonung liegt nun auf der Lebensqualität. Interessant ist auch, dass die Erwartungen der jungen Generation heute viel niedriger sind. Aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Lage glaubt man nicht mehr daran, erreichen zu können, was die Eltern hatten. Junge Menschen wollen deshalb heute nicht mehr für die Arbeit leben. New York ist da eine Ausnahme.
Inwiefern?
In New York sind die Menschen nach wie vor sehr leistungsorientiert. Allerdings sind Künstler wie Fotografen oder Schauspieler, auch wenn sie nicht so viel verdienen, bis zu einem bestimmten Alter hier immer noch sehr anerkannt. Danach gelten sie als gescheiterte Künstler. Ich denke da etwa an einen meiner Patienten, der Schauspieler werden wollte. Er ging ständig zum Vorsprechen, bekam aber nur wenige Rollen. Seine Eltern mussten ihn unterstützen, weil er nicht genug verdiente, um über die Runden zu kommen. Mit 40 hatte er immer noch wenig Arbeit. Heute macht er Publicity für Theater, was gut läuft. Trotzdem leidet er darunter, dass er es als Schauspieler nicht geschafft hat.
Ist es also gesünder, von Anfang an realistisch zu sein und Alternativen zu suchen?
Wenn Menschen in jungen Jahren zu mir kommen, rate ich ihnen, sich ein Ziel zu setzen, wie viele Jahre sie probieren wollen, im gewünschten Metier erfolgreich zu sein. Sie sollten einen Zeitpunkt wählen, zu dem sie noch jung genug sind, um eine andere Karriere zu starten. Wenn man einen Traum hat, sollte man alle Energie darin investieren, ihn zu verwirklichen. Ich bereue heute noch, dass ich nie versucht habe, Theaterregisseur zu werden.
Warum haben Sie es nicht versucht?
Ich konnte nicht mit der finanziellen Unsicherheit klarkommen. Und ich war mir nicht sicher, ob ich talentiert genug war, um ein wirklich guter Regisseur zu werden. Dabei hatte ich Kurse für Theaterregie belegt, war aber auch sehr interessiert an Psychologie. Weil ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man seinen Traum nicht verfolgt hat, ermutige ich Patienten, alles zu versuchen - aber eben mit einem Zeitlimit.
Sind Sicherheit und Selbstverwirklichung im Arbeitsleben nicht vereinbar?
Es sind zwei grundlegende menschliche Bedürfnisse, die in Konflikt geraten können. Zumindest zu Beginn der Karriere sollte man aber beides anstreben. Als Therapeut muss man mit dem Patienten herausfinden, welches Bedürfnis stärker ist.
Was müsste sich gesellschaftlich verändern, damit Arbeit weniger krank macht?
Wichtig ist eine stabile Wirtschaft. Wenn es genug Arbeit gibt und Menschen nicht ständig um ihren Job bangen müssen, trägt dies maßgeblich zu einer gesünderen Arbeitseinstellung bei. Entscheidend ist auch, wie sehr eine Kultur die gesunde Balance von Bedürfnissen betont. Es ist notwendig, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber auch, zu entspannen und Familie oder einen Partner zu haben.
Wie kann man selbst dazu beitragen, eine gesunde Arbeitseinstellung zu bewahren?
Zunächst einmal: Wie gesund die Arbeitseinstellung ist, hängt vor allem davon ab, wie "gesund" die eigene Kindheit und Familie waren. Eine schlechte Kindheit bedeutet aber nicht automatisch, dass man therapeutische Hilfe braucht. Wenn man aber immer deprimierter wird, sollte man sich einen Therapeuten suchen. Vor allem aber müssen Eltern damit aufhören, ihre Kinder ständig zu kritisieren und unrealistische Leistungen von ihnen zu erwarten. Nur so entwickeln sie ein gesundes Selbstbewusstsein.
Das Interview führte Carmen Eller