Geheime Gefühle

Wie können in der arabischen Welt stabile Staaten entstehen? Wie wird man den eigenen Werten gerecht – im Westen und in den islamischen Ländern?

Wenn jemand über das Sexualleben der Araber schreibt, ruft das bei mir ein gewisses Misstrauen hervor. Besonders wenn sich der Text an ein westliches Publikum richtet. Handelt es sich um einen Versuch, die arabische Welt in einem orientalisierenden Licht darzustellen, das nur alte Stereotype untermauert? Sollen hier Leser mit einem voyeuristischen Blick durchs Schlüsselloch auf eine ihnen schwer verständliche Gesellschaft umworben werden? Mit diesen Vorbehalten begann ich das Buch "Sex und die Zitadelle" von Shereen El Feki zu lesen. Die Vorbehalte wandelten sich allerdings rasch in eine interessierte Spannung. Ich wurde neugierig auf die Details des Bildes, das die Autorin von der Sexualität und dem Intimleben in einer sich wandelnden arabischen Welt gemalt hat.Mit jedem Pinselstrich tat sich eine neue Dimension eines sehr komplexen Themas auf.

Shereen El Feki, Tochter eines ägyptischen Vaters und einer Mutter aus Wales, beschloss nach dem 11. September 2001, ihren Wurzeln nachzuspüren und die arabische Welt durch die Linse der Sexualität zu betrachten. Als Ers­tes fiel ihr die geringe Verbreitung von Aids in den arabischen Ländern ins Auge. Bei ihrer Forschung wurde El Feki jedoch von dem tiefen Graben überrascht, der sich ihr zwischen Öffentlichem und Verborgenem auftat. Denn während die offiziellen Statistiken das seltene Vorkommen von Aids bestätigen, lernte sie ganze Familie kennen, die von der Krankheit betroffen waren. Sie entdeckte ein kollektives Bedürfnis, in Sachen Sexualität der Realität nicht ins Auge zu schauen, sondern alles Sexuelle unter einem Mantel der Verschwiegenheit zu belassen.

So begann sie ihre Reise durch eine ihr unbekannte Welt, fest entschlossen, kein Buch zu schreiben über all das Falsche in den arabischen Ländern, sondern darüber, was richtig läuft und wie anders als in anderen Regionen der Welt die Menschen dort ihre Probleme lösen. Herausgekommen ist ein Buch voller Geschichten von Menschen, die sich befreien wollen, ein Buch, das sowohl akademische Verstiegenheit als auch banale Exotik vermeidet. Shereen El Feki fällt keine verallgemeinernden Urteile über die arabische Welt, welche nicht nur aus unterschiedlichen Staaten besteht, sondern auch etliche Religionen, Konfessionen und Ethnien umfasst. Sie konzentriert sich bei ihrer Untersuchung hauptsächlich auf Ägypten und wandert dann von Kairo in die Emirate, den Libanon, Tunesien, Marokko und in weitere Länder. Dort trifft sie Schriftsteller und Akademiker und geht dem Widerspruch zwischen der großen Offenheit, die die arabischen Erotikbücher alter Zeiten auszeichnete, und der heutigen gesellschaftlichen Prüderie nach.

Sie präsentiert wahre Geschichten von unvergesslichen Personen: von Azza und ihren Freundinnen, die alle enttäuschte Hausfrauen sind; von Amâni aus Oberägypten, die heimlich mit ihrem Geliebten Hussâm verheiratet ist; von der jungen mittellosen Sâmija, die von ihrer Familie im Sommer des Geldes wegen mit reichen Touristen aus den Golfstaaten "verheiratet" wird; und von dem vierzigjährigen homosexuellen Nassîm, der in eine tiefe existenzielle Krise stürzt, nachdem er von seinem Freund Walîd verlassen wird. Die Autorin verweist auf eine Studie aus dem Jahre 1995, die ergab, dass der größte Unterschied zwischen der arabischen und der westlichen Welt nicht Werte wie Demokratie betrifft, sondern die Verteilung der Geschlechterrollen und die Sexualität.

Die interkulturelle Herkunft der Autorin ermöglicht es ihr, die eine Welt ganz illusionslos im Spiegel der anderen zu betrachten, weil sie sich einerseits der Gender-Geschichte in der arabischen Kultur sowie der einstigen Toleranz - etwa gegenüber der Homosexualität - bewusst ist, andererseits nicht zu Übertreibungen neigt, was die sexuellen Freiheiten des Westens angeht, wie wir es bei einigen vorurteilsbeladenen Arabern beobachten können. El Feki beginnt ihr Buch mit dem Hinweis auf zwei Reisen, die im 19. Jahrhundert unternommen wurden: Der französische Schriftsteller Gustave Flaubert fuhr nach Ägypten, der ägyptische Gelehrte Rifai al-Tahtawi nach Frankreich. Anhand dieser Reisen beleuchtet sie, wie sich vorherrschende Ansichten und die Vorurteile über die jeweils andere Seite gewandelt haben. So war die arabische Welt im Westen früher für ihre Freiheit bekannt gewesen, für die sie von einigen beneidet, von anderen kritisiert wurde. Heute krankt sie an ihrer sexuellen Intoleranz. Die strenge Ablehnung der Homosexualität durch den Westen hingegen, die einst die Anerkennung der arabischen Welt fand, hat jener heute dank der sexuellen Revolution aufgegeben.

Heutzutage ist es in der arabischen Welt nahezu verboten, im öffentlichen Raum über Sexualität zu sprechen. Es herrscht eine Kultur des Schweigens und der Kontrolle, die mit der Religion und der Macht der Bräuche und Traditionen gerechtfertigt wird. Sexualität vor der Ehe, Selbstbefriedigung, Homosexualität, Abtreibung oder außereheliche Kinder sind große Tabus, was die Autorin an die Situation in Europa vor der sexuellen Revolution erinnert. Sind dies also Anzeichen für eine kurz bevorstehende sexuelle Revolution in der arabischen Welt? Und kann der Arabische Frühling seinen Anteil daran haben? Das Buch liefert keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen, doch zwischen den Zeilen können wir brauchbare Hinweise entdecken. So etwa berichtet Dr. Heba Kotb, Spezialistin für Sexualberatung in Ägypten, dass sich ihre Patienten früher verschämt bei ihr erkundigten, ob am gleichen Tag noch weitere Patienten in der Praxis seien.

Heutzutage hingegen würden Dutzende Patienten gemeinsam und ohne Scham darauf warten, aufgerufen zu werden. Kotb verweist auf eine wichtige Veränderung im Zuge der Januar-Revolution und berichtet, dass es früher die Männer gewesen seien, die ihre Frauen zur Beratung in ihre Praxis schickten - während nach der Revolution die Frauen begannen, ihre Männer zur Behandlung anzuspornen und couragiert öffentlich ihre Unzufriedenheit mit ihrem Sexualleben und dem Sexualverhalten ihrer Männer zum Ausdruck zu bringen. Auch lenkt die Autorin die Aufmerksamkeit auf den Unterschied zwischen den offiziellen Ergebnissen von Umfragen und der Realität. Während Umfragen etwa besagen, dass die neuen Generationen in der arabischen Welt noch schamhafter seien als die älteren, stellte sie bei ihren heimlichen Gesprächen mit jungen Leuten beiderlei Geschlechts in Ägypten fest, dass sich Außenwelt und Innenwelt stark voneinander unterscheiden und dass diese Jugendlichen im Gegenteil innerlich befreit sind. Innen und Außen haben sich seit dem Januar-Aufstand aneinander angenähert. Und obwohl die Alten auf Kosten der Jungen, die die Revolution begannen, erneut die Macht übernahmen, bedeutet die Abwesenheit der Jungen vom Geschehen nicht notwendigerweise, dass sie sich außerhalb der Geschichte befinden. Denn wenn sie innerhalb des nächsten Jahrzehnts ihre Rollen angemessen ausfüllen, ihre Gesellschaften studieren, ihr Wissen vergrößern und ihre Methoden verfeinern würden, dann könnten sie vielleicht die erwartete Veränderung bewirken. Auch wenn dies im Schatten der Herrschaft der gestrengen Islamisten und ihres Bestrebens, den öffentlichen Raum zu verhüllen, nicht einfach sein wird und Zeit braucht.

Auf der anderen Seite löst das Buch für den nichtarabischen Leser - indirekt - viele Rätsel bezüglich der Verhaltensweisen gegenüber Frauen nach der Revolution in Ägypten auf und zeigt auch die vielen übereinanderliegenden Schichten des Schweigens. Es hilft die Hintergründe der derzeitigen Ereignisse in Ägypten zu verstehen, wo politische Auseinandersetzungen von solchen um den (weiblichen) Körper überschattet zu werden scheinen. Die Islamisten wollen die Frauen ins Haus und damit aus dem öffentlichen Raum verbannen. Die Muslimbrüder rufen einerseits dazu auf, den Körper zu bedecken, das Militär andererseits entblößt, erniedrigt, schlägt und zerrt den weiblichen Körper durch die Straßen. Teile der säkularen Eliten hingegen verengen die Diskussion um Frauenrechte auf einen Konflikt zwischen Bikini und Gesichtsschleier. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass "Sex und die Zitadelle" stärker auf die Zentralität des Körpers im Arabischen Frühling allgemein eingegangen wäre, war er doch in seiner umfassendsten Bedeutung auf vielfältige Weise höchst gegenwärtig: der verbrannte Körper des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, der die Revolutionen auslöste. Die Bilder des gequälten toten Körpers des Bloggers Khâled Said nach seiner Verhaftung, die im Internet verbreitet wurden. Der geschändete Körper der Frauenrechtlerin Samîra Ibrahîm, die sich gerichtlich gegen die an ihr und anderen Demonstrantinnen im Gefängnis durch Militärangehörige durchgeführte "Jungfräulichkeitstests" zur Wehr setzte.

Der geradezu herausfordernd stolze Körper der Kunststudentin Alia al-Mahdi, die mit Nacktaufnahmen im Internet gegen Gewalt, Rassismus und Sexismus protestierte. Sowohl bei der Phobie der radikalen Islamisten gegenüber allem Sexuellen und ihrer gleichzeitigen Bessessenheit davon als auch bei den Folterpraktiken und den Angriffen auf die Revolutionäre spielt der Sexualkomplex eine Rolle. Von der Entehrung inhaftierter Männer bis hin zu quasi systematischen kollektiven sexuellen Übergriffen während der Demonstrationen haftet diesen Praktiken allesamt ein sadistischer Zug an. Gegen Ende des Buches vergleicht Shereen El Feki die arabische Welt in Bezug auf die Sexualität mit einer von außen unzugänglichen Zitadelle, bei deren genauer Betrachtung sich jedoch etliche Öffnungen entdecken lassen. Doch nur die Zeit kann die Frage beantworten, ob sich diese Festung in ein vertrautes Heim verwandelt, welches sich seiner Bewohner erbarmt, oder in ein wohlbefestigtes Gefängnis, das sie bezwingt.

Sex und die Zitadelle. Von Shereen El Feki. Hanser Berlin, 2013.

Aus dem Arabischen von Larissa Bender