Frauen auf Rädern

Was es für einen Unterschied machen würde, wenn Frauen in Pakistan Fahrrad fahren könnten

Jeden Morgen ging ich zum Bahnhof Südkreuz, um mit der S-Bahn zur Arbeit in Berlin-Mitte zu fahren. Obwohl der Weg kurz war, kam er mir sehr lang vor, wenn sich die Sonne seit Tagen nicht mehr gezeigt hatte, es regnerisch oder nebelig war. Auf diesem Weg traf ich fast immer eine junge deutsche Frau auf einem Fahrrad. Nennen wir sie Susanne.In den drei Monaten, die ich vergangenes Jahr als Praktikantin in Berlin verbrachte, fing ich an, deutsche Frauen wie Susanne zu beneiden. Sie lebte in der gleichen Welt wie ich, saß mir bei der Arbeit gegenüber. Doch die Regeln, nach denen sie lebte, die Möglichkeiten, die ihr offenstanden und die Unabhängigkeit, die sie jeden Tag genoss - all das konnte ich mir für mich selbst in meinem Heimatland nicht vorstellen. Denn ich komme aus Karatschi in Pakistan und bin Muslimin. Meine Eifersucht steigerte sich sogar noch, wenn ich Susanne auf ihrem Fahrrad an mir vorbeirasen sah, während ich mich mühsam mit meiner schweren Tasche über die Straßen schleppte. In meiner Tasche steckten keine dicken Bücher oder ein Laptop, sondern emotionales Gepäck, all die Streits und Diskussionen, die ich in den vergangenen Jahren in Pakistan geführt hatte und in denen es darum ging, warum Frauen es nicht wagen sollten, Fahrrad zu fahren.

Und deshalb bin ich neidisch darauf, dass Susanne einfach in den Park auf dem ehemaligen Tempelhofer Flugfeld fahren und an all den Skatern und Fußgängern vorbeiradeln kann. Ich platze vor Neid, weil sie in ein Café gehen oder sich im Kino einen Film ansehen darf, ohne vorher bei ihrem Vater, Bruder oder Ehemann um Erlaubnis zu betteln. Sie wird niemals wissen, was für ein Gefühl es ist, in einem Land auf die Straße zu gehen, wo man sogar von Kopf bis Fuß verhüllt noch die gierigen Blicke der Männer ertragen muss.

Ich wünsche mir, ich könnte Fahrrad fah­ren. Nicht nur auf den wundervollen Straßen im regnerischen Berlin, auch auf den staubigen Straßen Karatschis. Aber das geht nicht. Eine pakistanische Frau fährt nicht Fahrrad. Auf einem Fahrrad auf den Straßen von Karatschi, Lahore oder Islamabad würde sie belästigt oder bedroht werden. Radfahren ist für uns Frauen in Pakistan "har?m", nach islamischem Recht verboten. Sogar eine komplett verhüllte Frau in ihrem Tschador würde auf einem Rad von vielen Männern als anstößig empfunden werden. Aber auch in Taxis oder Bussen werden wir von Männern beläs­tigt. Was für einen Unterschied würde es auf dem Fahrrad machen? Radfahren gehört sich nicht für eine Frau, es gilt als nicht damenhaft. In Pakistan ist es anständiger für eine Frau, ein ganzes Leben lang von einem Mann abhängig zu sein.

Selbst pakistanischen Frauen fällt die Vorstellung vom Radfahren oft schwer, bei manchen löst allein der Gedanke Gelächter aus. Sie wollen nicht noch mehr Probleme haben.Natürlich gibt es noch andere Gründe, die gegen das Radfahren sprechen - so gibt es keine Radwege, die Straßen sind schlecht ausgebaut und es ist oft sehr heiß. Aber diese Probleme haben Frauen in anderen Entwicklungsländern auch. Und trotzdem steigen sie dort jeden Tag auf ihr Rad.

Wenn wir Frauen diesen kleinen, schmerzlosen Schritt tun und uns auf einen Fahrradsattel setzen würden, wenn wir die Freiheit hätten, zu kommen und zu gehen, wann wir wollen, könnten die pakistanischen Männer unser Leben nicht mehr so stark kontrollieren. Wenn wir selbstständig zur Schule oder arbeiten gehen könnten, wären wir mit ihnen gleichgestellt. Wir würden unser eigenes Geld verdienen und ausgeben, wie es uns gefällt. Wir würden in einem Land, das stark verschmutzt ist, einen Beitrag zum Schutz der Umwelt leisten. In einem Land, in dem der Unterschied zwischen Arm und Reich so groß ist, würden Ungleichheiten verschwinden, wenn alle Rad fahren würden. Für pakistanische Männer ist das ein beängstigender Gedanke. Vielleicht sind das die Gründe, warum mir das Radfahren nie beigebracht wurde. Heute kann ich es trotz all meiner Anstrengungen noch immer nicht.

Während meines Aufenthalts in Berlin habe ich zum ersten Mal die Fahrradkultur Europas erlebt. Vorher konnte ich mir nicht vorstellen, dass es Städte gibt, in der die Hälfte aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Ich habe an einem Kultur-Diplomatie-Workshop teilgenommen, in dem es um die Fahrradkultur Kopenhagens ging. Ich konnte kaum glauben, dass es dort eine Fahrradautobahn, eine Fahrradbotschaft, Fahrradblogs und sogar einen radelnden Präsidenten gibt. Für Frauen, die aus Ländern kommen, in denen sie das Radfahren nie gelernt haben, gibt es in Dänemark sogar ein Institut, das dafür zuständig ist, ihnen noch als Erwachsenen das Radfahren beizubringen.

Ich bin es leid, diese Kulturen und die Freiheiten, die sie bieten, zu beneiden. Bevor ich nach Deutschland ging, habe ich die Probleme und sozialen Ungerechtigkeiten in Pakistan kaum noch wahrgenommen. Doch nachdem ich erlebt habe, wie unabhängig Frauen in Deutschland leben und wie friedlich es ist, sehe ich mein Heimatland mit anderen Augen. Deshalb denke ich über eine kulturelle Veränderung Pakistans nach, was die Mobilität der Frauen angeht. Ich hoffe, dass pakistanische Frauen, die interessiert sind, Rad zu fahren, sich bei mir melden. Ich hoffe, dass pakistanische Organisationen uns helfen, Fahrräder zu organisieren. Ich hoffe, dass uns jemand beibringt, wie man Rad fährt. Denn diese Veränderung wird es nur geben, wenn eine einzige Frau sich traut, ein Fahrrad auf den Straßen von Lahore, Karatschi oder Islamabad auf ein Fahrrad zu steigen.

Manchmal werden Träume wahr und Dinge, die gestern noch unvorstellbar schienen, sind plötzlich zum Greifen nahe. Wieder in Pakistan, schrieb ich in der Tageszeitung Express Tribune über meinen Wunsch, Fahrrad zu fahren. Ich weiß nicht, ob es die Macht des gedruckten Wortes war oder reiner Zufall: Aber kurze Zeit später kündigte die Gruppe "Critical Mass" eine Protestfahrt an. Ich ging zu dem ersten Vorbereitungstreffen, bei dem Anfängerinnen wie mir gezeigt wurde, wie man Fahrrad fährt. Alte Frauen waren da, junge Mädchen, und nicht zuletzt erschienen auch aufgeschlossene Väter, Ehemänner und Brüder, die keine Probleme damit hatten, dass ihre Töchter, Ehefrauen und Schwestern ein kulturelles Tabu brechen würden.

Anfang Februar war es dann so weit. Als ich am vereinbarten Treffpunkt ankam, wartetenÜbertragungswagen und Kamerateams auf uns, und Aufseher, Polizisten und Bombenentschärfungskommandos versuchten, die Route zu sichern. Kaum vorstellbar, dass solche Vorkehrungen anderswo nötig wären, um Frauen das Radfahren zu ermöglichen. Doch endlich konnte die Tour starten. Dreißig Frauen radelten zum ersten Mal durch die Straßen Karatschis. Ich hatte eine Gänsehaut - und war unglaublich stolz auf sie.

Aus dem Englischen von Lisa Büntemeyer