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Fabrik ohne Boss

Wie argentinische Arbeiter ihre Keramikfabrik nach der Pleite selbst übernahmen

"Wenn dich Luigi Zanon mit einem Kuss begrüßte, war das so etwas wie ein Mafiakuss. Es bedeutete nämlich, dass du in ein paar Tagen ein Kündigungsschreiben erhalten würdest." So erinnern sich die Arbeiter an den früheren Besitzer der Fabrik Zanon, die heute als herausragendes Beispiel für einen von Arbeitern geführten Betrieb gilt.Seit elf Jahren werden im argentinischen Neuquén nun schon ohne Chef und Vorarbeiter Keramikkacheln und -fliesen produziert. Nachdem die Fabrik 2001 bankrottging und vom Eigentümer geschlossen wurde, besetzten die ehemaligen Mitarbeiter von Cerámica Zanon das Gebäude des Unternehmens und nahmen den Betrieb wieder auf.

Die Keramikfabrik war 1979 auf staatlichem Grund und Boden und mit Hilfe von Steuergeldern gegründet worden. Bis 2001 waren hier 650 Personen beschäftigt. Heute, unter der selbst verwalteten Arbeiterführung, sind es noch rund 430. Vor allem Ingenieure und Fachkräfte gingen nach der Reaktivierung der Fabrik durch die Arbeiter. Gabriel Reyes, einer der Besetzer, erklärt, warum das Führungspersonal die Fabrik verließ: "Vom Kontrollieren mussten sie zum Mit-uns-Arbeiten wechseln. Das gefiel den meisten nicht."Früher herrschten in der Fabrik strenge Bedingungen: "Jeder Abteilung war eine Kleiderfarbe zugeordnet, und wenn sie dich dabei erwischten, dass du mit jemandem sprachst, der nicht den gleichen Overall anhatte, gab es eine Strafe", erinnert sich der 50-jährige Reyes, der seit 27 Jahren in der Fabrik arbeitet, und fügt hinzu: "Das sollte verhindern, dass du dich gewerkschaftlich organisieren konntest."

Im Gespräch erinnern Reyes und seine Kollegen, dass sie auch keinen Mate-Tee trinken durften und der Gang zur Toilette praktisch verboten war. Von diesen Kontrollmethoden bleiben heute nur noch die Erinnerungen. Die Arbeitsschichten hingegen sind die gleichen geblieben: drei Acht-Stunden-Schichten am Tag, sechs Tage und im Anschluss zwei Ruhetage oder sechs Tage und einen Ruhetag, je nach Abteilung. Die Produktion steht nie still. Früher nicht und heute nicht.Die Geschichte der Kooperative FaSinPat ("Fábrica Sin Patrones", "Fabrik ohne Chefs"), die die ehemalige Zanon-Fabrik heute verwaltet, begann schon vor 2001. In diesem Jahr verzeichnete Argentinien die schlimmste wirtschaftliche und soziale Krise der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Probleme bei Zanon verschärften sich schon im Jahr 2000. Die Fabrikleitung senkte unter Verweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten die Löhne und entließ rund hundert Arbeiter.

Ein 34-tägiger Streik zwang die Leitung dazu, verspätete Gehälter schließlich doch zu bezahlen, doch bald kamen die Schwierigkeiten wieder. Immer wieder blieben Lohnzahlungen aus. Die Arbeiter führten 2001 eine erste Besetzung durch, nachdem sie zuvor lange gegen die Arbeitsbedingungen demonstriert hatten. Doch dieses Mal ging die Fabrikleitung weiter: Sie schaltete die Öfen ab und ließ die Arbeiter aussperren. Für die Arbeiter bestand kein Zweifel: Die Besitzer wollten die Fabrik ausräumen und schließen.Heute zeugt die brachliegende Produktionslinie Nr. 11 (von insgesamt 13) von dieser Demontage der Fabrik durch die Arbeitgeber. Reyes erzählt, wie sie eines Tages einen Ingenieur dabei erwischten, wie er die Produktionsabteilung für Keramikplatten ausräumen wollte. "Da merkten wir, das hier geht den Bach runter, die werden alles mitnehmen", erzählt er weiter. So mussten sie schnell zu einer Entscheidung kommen, bevor es zu spät war. "Wenn wir übernehmen müssen", gibt er ihre damaligen Überlegungen wieder, "dann übernehmen wir eben jetzt" - denn die Eigentümer ließen zu dieser Zeit schon die Materialien mit Lastwagen herausschaffen. 20 Lastwagen am Tag.

Die Justiz urteilte in einem späteren Prozess zu ihren Gunsten: Die Richterin Maria Rivero de Taiana ordnete an, 40 Prozent des Lagers zu beschlagnahmen, um mit dem Verkauf der Fliesen und Kacheln die ausstehenden Löhne zu bezahlen. Als die Arbeiter endlich wieder in die Fabrik konnten, fanden sie eine Vielzahl von Dokumenten vernichtet vor. Nicht nur administrative Unterlagen, sondern auch solche, die Informationen über die verschiedenen Produktionslinien und ihre Funktionsweisen enthielten. "Wir mussten mit allem bei null anfangen, mussten Leute für eine buchhalterische Inventur anstellen sowie für eine Inventur des Maschinenbestands in der Fabrik", erklärt Reyes die ersten Schritte, bevor überhaupt eine Organisation der Wiederaufnahme von Produktionstätigkeiten möglich war.

"Die meisten Kollegen waren wie ich schon seit Jahren dabei, also musst du darauf zurückgreifen, was jeder über seinen Bereich weiß. Zum Beispiel kümmerten wir, die wir in der Wartungsabteilung waren, uns um Wartungsarbeiten." Nach und nach eigneten sie sich das Wissen über die gesamten Produktionsabläufe an.Ramiro Avellaneda ist erst nach der Übernahme der Fabrik durch die Arbeiter dazugekommen. Dennoch haben ihn seine Kollegen zum Verantwortlichen für seine Schicht im Bereich der Öfen gewählt. "Jede Abteilung wählt ihre eigenen Schicht-Verantwortlichen", erzählt Avellaneda. Diese Koordinatoren nehmen später an den Versammlungen der Fabrikleitung der Kooperative teil. Gleichzeitig werden auch Treffen in größeren Runden organisiert, auf denen alles diskutiert wird, von Neuzugägnen zur Fabrik über Produktionsfragen bis hin zu Fragen des Verkaufs und des Vertriebs. Die Arbeiter haben ein Rotationsprinzip sowohl für die Abteilungen als auch für die gewählte Fabrikleitung eingeführt.

Avellaneda erinnert sich, dass am Anfang auch neue Fachkräfte eingestellt werden mussten. Sie kamen von der staatlichen Universität von Comahue in Neuquén. Die Fachkräfte unterstützen die Arbeiter hauptsächlich dabei, Sicherheitsmaßnahmen richtig einzuhalten. "Wir haben letztlich mit nur einer Produktionslinie angefangen", erzählt Reyes, "dann kamen nach und nach weitere hinzu."Avellaneda weist darauf hin, dass der Höhepunkt der selbst organisierten Produktion bei über 420.000 Quadratmetern Keramikprodukten lag. Gegenwärtig liegt die Zahl niedriger und die Abnutzung der Maschinen trägt dazu bei, dass keine größeren Produktionsvolumina angestrebt werden können. Zwar gilt die Fabrik als Aushängeschild der selbst verwalteten Betriebe, doch nicht überall stoßen ihre Produkte auf Akzeptanz.

"Manche der alten Kunden von Zanon wollen uns heute nichts mehr abkaufen, weil wir jetzt eine arbeiterorganisierte Fabrik sind", erzählt Reyes. "Die glauben, wir sind eine Menge Spinner, die die Idee hatten, eine Fabrik zu übernehmen und sie zum Laufen zu bringen. Das wird in der Geschäftswelt nicht gut angesehen." Aber über so ein weites Feld wie Marktfragen haben sie sich ebenfalls schlaugemacht und dazugelernt. "Es gibt Kollegen, die nach Brasilien gereist sind, um zu schauen, was für Arten von Keramikprodukten dort verkauft werden, welche Farben, welche Modelle dort nachgefragt werden. Aber: Wir sind keine Insel", räumt Avellaneda ein: "Wenn es der Wirtschaft schlecht geht, dann betrifft es dich als Fabrik auf jeden Fall, ganz egal ob du arbeitgeber- oder arbeitnehmergeführt bist. Wenn es eine Inflation gibt und die Löhne betroffen sind, müsstest du eigentlich mehr produzieren, aber wenn du nicht den Input hast oder Maschinen kaputtgehen und du keine Ersatzteile kaufen kannst, dann hast du einen Riesennachteil." Und so hören trotz aller Bemühungen und der Entwicklung der Fähigkeiten der organisierten Arbeiter die Herausforderungen nie auf, genauso wenig wie das Dazulernen."

Hier in der Fabrik kontrolliert dich niemand und wir arbeiten für uns selbst, deshalb sind Solidarität und Kollegialität so wichtig. Mehr als die Hälfte von uns ist über 50 Jahre alt und trotz der großen Bemühungen müssen viele wegen der hohen Lebenshaltungskosten zwei Jobs machen", beschreibt Reyes die Situation der Arbeiter. Avellaneda verdient sich mit gelegentlichen Elektrikerarbeiten in der Nachbarschaft ein Zubrot, Reyes führt Schmiedearbeiten aus."Ich kann nicht nur an mich denken", sagt Reyes. "Es gibt 430 Arbeiter. Ich versuche, nicht zu fehlen, nicht zu spät zu kommen, meine Arbeit zu machen. Und ich mache das nicht nur, weil ich gerne arbeite, ich mache es, weil ich davon lebe."Der Gouverneur von Neuquén hat im November 2012 ein Dekret zur Enteignung der Fabrik erlassen. Dies beinhaltet, dass der Staat die Schulden der Fabrik von 23 Millionen Pesos übernimmt, mit denen die Gläubiger bezahlt werden können. Für die Arbeiter von FaSinPat bedeutet das, auch endlich Kredite beantragen zu können und die Maschinen zu erneuern, um die Produktion auszubauen. Vielleicht nehmen die Arbeiter auch die stillstehende Produktionslinie 11 wieder in Betrieb. 

Aus dem Spanischen von Margarita Ruby