Du Ungar! Ich Deutscher!

Es ist nicht leicht, über Europa zu sprechen. Wie Intellektuelle es auf internationalem Zusammentreffen trotzdem versuchen

Vor fast einem Vierteljahrhundert schrieb der britische Historiker Norman Davies "Europe, A History". Auf über 1.300 Seiten schildert er die Entwicklung Europas durch sämtliche Epochen der Geschichte bis zu dem Jahr, in dem er seine Arbeit abschloss: 1992. In diesem Jahr wurde der Maastricht-Vertrag unterschrieben, das Gründungsdokument der Europäischen Union, und gleichzeitig begann der Krieg in Bosnien-Herzegowina, der tragischste aller Waffengänge, die Jugoslawien, das einstige "Europa im Kleinen", zerrissen und für immer zerstörten.

Deswegen muss es einen nicht wundern, dass Davies' beflissener Optimismus voller Vorbehalte steckt. Das Europa von 1992, "ein Geschöpf des Kalten Krieges", sei, so Davies, seinen Aufgaben nicht gewachsen, die moralische und politische Vision der Gründer der Gemeinschaft fast vergessen. In unmittelbarer Zukunft werde der Kontinent nicht zur Einheit finden, habe aber die Chance, nicht mehr ganz so zersplittert weiterzuexistieren wie in den Generationen zuvor.

Heute klingen die Worte von Norman Davies wie eine düstere Prophezeiung. Europa befindet sich in einer tiefen, vielschichtigen, wirklich dramatischen Wirtschafts-, Finanz- und Identitätskrise. Langsam fragt man sich, ob die Krise überhaupt überwunden werden kann. Die Europäische Union läuft Gefahr, vollständig zu scheitern. Euroskeptiker aller Länder wird es freuen, Europhile raufen sich hingegen die Haare. Die einen wie die anderen aber fragen sich, wohin das führen soll. Denn wir sitzen alle im selben Boot, wie unterschiedlich unsere Ansichten auch sein mögen. Das europäische Projekt klafft wie die schlecht zugeschnittenen Teile eines schludrig genähten Anzuges, der allen passen sollte, aber keinem gut steht, an allen Ecken und Enden auseinander. Der Preis dafür ist hoch: wachsende antieuropäische Ressentiments, Fremdenfeindlichkeit, konservative Kleinstaaterei und die Rückkehr zur Nestwärme nationaler Mythen.

Ich bin kein Euroskeptiker. Zugegeben auch kein glühender Anhänger der europäischen Idee. Aber von hier aus gesehen, also vom Südosten des Kontinents aus, einem (nicht europäischen) Serbien mit seinen eigenen Problemen, einem frustrierten und in seinem Stolz verletzten Serbien, das aber zum Glück immer noch bereit ist, sich der Europäischen Union anzuschließen, also von hier aus gesehen weiß ich, dass wir keine Wahl haben. Nichts wie weg von der ewigen Selbstverliebtheit souveräner Nationalstaaten mit ihren Territorialgrenzen, Valuten, Fahnen, Hymnen, Insignien und dem ganzen heraldischen Popanz!

Im Verlauf der europäischen Integration zeigte sich bei aller neuen Offenheit und Durchlässigkeit von Grenzen, Märkten, Menschen und Ideen ein unerwartetes Paradoxon. László Végel hat es bei der Veranstaltung "What really matters - First Budapest Debate on Europe", die im Dezember 2012 auf Initiative der Allianz Kulturstiftung, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der S. Fischer Stiftung in Budapest stattfand, benannt: Die Europäische Union verstärke und vervielfache wider ihre ursprüngliche Absicht nationale Identitäten. So sehr, dass sich, wie Végel in diesem Kontext weniger Schriftsteller denn ethnischer Ungar aus der Vojvodina geistreich hinzufügte, selbst auf diesem internationalen Treffen europäischer Intellektueller alle Podiumsteilnehmer ausschließlich als Vertreter einer nationalen oder ethnischen Identität präsentierten.

Offenbar gibt es da kein Entrinnen. Europäer sehen andere Europäer nicht als Europäer, sondern als Ungarn, Serben, Deutsche oder Portugiesen. Das ist völlig in Ordnung, es war schon immer so und muss auch so sein, schließlich ist diese bunte Vielfalt der Kern Europas. In Zeiten der Krise allerdings gewinnen die Unterschiede an Schärfe, unvermeidlich wachsen Frust und Spannungen. Davon handelt Ingo Schulzes schlichter, aber wirkungsvoller Essay "Du Ungar! Ich Deutscher! Fertig! - Vom Versuch, sich nicht auf den Fußballfan reduzieren zu lassen", der ebenfalls für die "Budapester Reden über Europa" entstand. Schulze erzählt darin von einem Vorfall bei einer Lesung in Porto. Ein Mann provozierte ihn mit der Frage, die sich weder an Schulze als Person noch als Schriftsteller, sondern ausschließlich an den Deutschen richtete: ob sie (die Deutschen) mit ihrer Wirtschaft nicht genau das erreichten, was sie vor nicht allzu langer Zeit mit ihren Panzern nicht geschafft hätten? Schulze räumte offen ein, dass er sich in der Situation zu sehr ärgerte, um besonnen zu reagieren, und beleidigt erwidert habe, schließlich werde niemand gezwungen, einen Mercedes zu kaufen, und die Portugiesen sollten, statt zu meckern, doch lieber für die gewährten günstigen Kredite dankbar sein.

Der Tumult nach seinem letzten Wort habe ihn dann wieder zur Besinnung gebracht. Da er das Mikrofon noch in der Hand hielt, hätte er mit seinem schlechten Englisch hineingestottert, dass die Antwort wohl genauso blöde ausgefallen sei wie die Frage, und sie seien wohl alle miteinander in die Falle getappt, sich wie bei einem Fußballspiel als Portugiesen oder Deutsche anzusprechen.

Mit Blick aufs Brandenburger Tor fand im Dezember 2012 in Berlin eine weitere Podiumsdiskussion "Reden über Europa" statt, an der der rumänische Schrifsteller Mircea C?rt?rescu teilnahm. In einem seiner Beiträge nannte er die europäische Idee "majestätisch". Vielleicht ist es kein Wunder, dass er als Rumäne das Bedürfnis verspürte, der "europäischen Idee" ein so großzügiges Kompliment zu machen. Mir schnürte es die Kehle zu. Da ich den größten Teil meines Lebens in Serbien verbracht habe, musste ich erleben, wie derlei jubelnde Ausrufe einen bitteren Beigeschmack bekamen. Das sozialistische System wurde einmal ähnlich überhöht. Auf dem Balkan folgten auf die großen Worte viele Tote. Deshalb kann ich heute nichts und niemanden mehr bejubeln.

Schon robuste Identitäten sind ja anstrengend. Erweisen sie sich auch noch als unbeständig, können sie Menschen, die ja auf eine Identität angewiesen sind, in den Wahnsinn treiben. Der Schriftsteller Ingo Schulze, der Ostdeutsche Ingo Schulze, der Deutsche Ingo Schulze - potenziell sind das drei total verschiedene Personen in den Augen von drei verschiedenen Betrachtern. Wenn die Identität dann auch noch frei und scheinbar autonom innerhalb ein und derselben Person wechselt, nicht nur im Auge des Betrachters, dann wird es richtig kompliziert und oft auch widersinnig, wie mir die Geschichte des Szegedi Csanáda zeigte, die mir bei der Konferenz in Budapest zu Ohren kam. An zwei Orten waren in der Hauptstadt der Ungarn die Diskussionen angesiedelt, im Literaturmuseum Pet?fi und im Budapester Zentrum für Architektur "Fuga" in der Sándor-Pet?fi-Straße. Budapest war nicht zufällig als Tagungsort für Schriftsteller und Intellektuelle (darunter György Konrád, Michael Krüger, Robert Menasse, Richard Swartz, Ilma Rakusa) gewählt worden. Das Ungarn, in dem sich die allgemeine europäische Problematik auf politischer Ebene so exemplarisch zuspitzt wie in Griechenland oder Spanien auf ökonomischer, war der rote Faden der Veranstaltung. Jedes weitere Thema wurde an diesem (unrühmlichen) Beispiel gemessen.

Bei einer ähnlichen Diskussionsrunde in Bratislava mit dem schlichten und provokanten Thema "Hass" nannte der niederländische Journalist und Schriftsteller Chris Keulemans Ungarn als Beispiel für ein Land, das die Demokratie als Falle erlebt. Auch wenn man im weltoffenen und eleganten Budapest nicht viel davon merkt, passieren in Ungarn Dinge, die wir bis vor Kurzem nicht für möglich gehalten hätten. Während der Podiumsdiskussion in Budapest drehte sich das Gespräch praktisch die gesamte Zeit um den Skandal, den Márton Gyöngyösi, Abgeordneter der ultranationalistischen Jobbik, am 27.?November 2012 im ungarischen Parlament während einer Debatte über die jüngste Krise im Gazastreifen mit der Bemerkung losgetreten hatte, es sei höchste Zeit, Menschen jüdischer Abstammung in Ungarn in Listen zu erfassen, denn diese seien allein durch ihr Judentum ein nationales Sicherheitsrisiko. Ein weiterer Beleg, dass die Lage in Ungarn und damit auch in der Europäischen Union reichlich bizarr geworden ist, ist die Tatsache, dass keiner der Abgeordneten aus Protest den Saal verließ, die Sitzung ging vielmehr weiter, als sei nichts geschehen.

Beim Essen sprach ich später mit dem in Siebenbürgen aufgewachsenen ungarischen Autor György Dragomán über die Jobbik-Partei und deren Antisemitismus, der zu dem jüngsten Eklat geführt hatte. Dragomán hält die antisemitischen Entgleisungen für ein Eigentor.

Aber Vernunft war noch nie die Stärke der Jobbik-Partei, die sich selbst als werteorientierte, konservative und radikal patriotische christliche Bewegung beschreibt, während andere in ihr eine faschistische, neonazistische, rassistische, antisemitische, gegen Roma und Ausländer hetzende Ansammlung von Nationalromantikern sehen.

Von György Dragomán erfuhr ich auch die lehrreiche Geschichte des Jobbik-Politikers und Europa-Abgeordneten Szegedi Csanád. Der junge, umtriebige Rechtsextreme hat die Magyar Gárda (Ungarische Garde) mitbegründet, die schwarze Uniformen und Abzeichen ähnlich dem Emblem der ungarischen nationalsozialistischen Pfeilkreuzlerpartei trug. Nach dem Verbot der paramilitärischen Organisation 2009 trat Csanád der Jobbik bei und wurde noch im selben Jahr nach Brüssel geschickt. Im Juni 2012 wendete sich das Blatt plötzlich und unerwartet wie in einer griechischen Tragödie: Der "hundertprozentige" Ungar und glühende Antisemit (wie er sich selbst stolz charakterisierte) erfuhr durch blanken Zufall, dass er jüdische Wurzeln hatte. Seine Großmutter mütterlicherseits hatte Ausch­witz überlebt, der Großvater als Zwangsarbeiter in Lagern schuften müssen. Nach jüdischem Gesetz war Szegedi Csanád Jude, egal wie er selbst die Sache sah. Verzweifelt, vom Leben und den unvorhersehbaren Tücken der Identität gebeutelt und von anderen Faschisten verspottet, musste Csanád Jobbik verlassen.

Ein tolles Stück, nicht? Fast könnte man glauben, die intriganten Götter aus dem Pantheon der alten Griechen hätten ihre Finger im Spiel! Dass sich das alles im Jahr 2012 mitten in der Europäischen Union abspielt, ist vollkommen widersinnig; wir hätten uns derlei früher nicht vorstellen können, es ist schwer zu begreifen und noch schwerer zu akzeptieren. Aber jeder legt sich seine eigene Wahrheit zurecht.

So zeichnete der österreichische Schriftsteller Robert Menasse in Budapest ein überraschend rosiges Bild des künftigen Europa. In wenigen Jahren würde eine neue Generation die Bühne betreten, die Generation Erasmus, und die würde die eigentliche Wende bewirken. Menasse stellte seine Tochter als Vertreterin dieser Generation vor: Sie spricht vier Sprachen, nutzt das Internet, hat ein iPhone, hält via Facebook Kontakt zu Freunden in 18 Ländern. Menasses Glaube an diese Zukunft scheint grenzenlos. Ich saß im überfüllten Saal des Pet?fi-Museums und wunderte mich über die naive These des ansonsten so scharfsinnigen Analytikers österreichischer und europäischer Realitäten. Ich hätte gern eingewendet, dass die Generation Erasmus längst auf der Bühne steht und Szegedi Csanád ihr angehört. Doch eine Sache beunruhigt mich noch mehr als Menasses Glaube an Europas glänzende Zukunft: dass die Redner des Abends ständig das politisch-ökonomische Projekt der Europäischen Union mit dem kulturellen und geografischen Begriff Europa verwechselten und den Unterschied zwischen dem Kontinent in seiner Gesamtheit und der Gemeinschaft, die nicht alle europäischen Länder vereint, ausblendeten.

Der Unterschied interessiert kaum jemanden, am wenigsten die, die schon eine Mitgliedskarte für den Polo-Klub EU haben. Wichtig ist er höchstens jenen, die zwar auf dem europäischen Kontinent, aber nicht "in Europa" leben. Als der Moderator die Diskussion für Fragen aus dem Publikum öffnete, tat ich daher etwas, was ich nie tue. Ich meldete mich, und als ich das Mikro bekam, stand ich auf und stellte mich vor. "Wovon reden wir", fragte ich in die Runde, "wenn wir von Europa reden?" Ich bekam keine Antwort. Aber um ehrlich zu sein, ich habe auch keine erwartet.

Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert.