Von Awsim zum Tahrir-Platz
Ein Dorf protestiert gegen die Diktatur und nimmt sein Schicksal selbst in die Hand
Vor der Revolution hatten die Menschen in Awsim Vertrauen in die Politiker. Wenn ein Problem auftauchte, wandten sie sich an die zuständigen Stellen. Sie hofften darauf, diese würden ihre Aufgaben erfüllen. Dabei haben weder Bürgermeister, Kommunalpolitiker noch andere offizielle Vertreter je etwas getan, um die Probleme der Menschen zu lösen.
Unser Dorf Awsim nördlich von Kairo war von Anfang an besonders aktiv bei den Protesten. Als vor mehr als einem Jahr die Massendemonstrationen in Kairo, Alexandria, Suez und anderen Städten begannen, gingen auch bei uns 3.000 Menschen auf die Straße und riefen „Nieder mit Mubarak!“. Und als sich die Lage auf dem Tahrir-Platz an den folgenden Tagen verschärfte, fuhren unglaublich viele Bewohner von Awsim in Bussen nach Kairo.
In vielen anderen Ländern würde mein Dorf wohl eher als Stadt gelten, immerhin hat Awsim 100.000 Einwohner. Aber für Ägypten ist es ein typisches Dorf. Es ist von der Landwirtschaft geprägt, die meisten Menschen sind Bauern. Sie pflanzen Obst, Gemüse und Futtermais an. Viele tragen traditionelle Kleidung. Aber es gibt hier alles – Awsim zeigt den Querschnitt durch die ägyptische Bevölkerung. Es gibt viele Arme, wenige Reiche und eine kleine Mittelschicht. Große schicke Häuser sind genauso zu sehen wie die Hütten der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben. Immer mehr junge Leute gehen für das Studium nach Kairo und arbeiten anschließend wieder im Dorf als Ingenieure, Ärzte und Rechtsanwälte.
Vergangenes Jahr habe ich bei den Parlamentswahlen kandidiert. Denn ich will, dass die Revolution weitergeht. Die Stimme der jungen Leute, die die-?se Revolution getragen haben, muss gehört werden. Meine Kandidatur ist für mich ein Symbol dafür, dass wir niemals aufhören werden, unsere Forderungen zu stellen. Dass viele der jungen Revolutionäre wie ich nicht ins Parlament gekommen sind, sehe ich nicht als unseren persönlichen Misserfolg an. Ich trat gegen Kandidaten an, die – im Fall der Salafisten – enorme finanzielle Hilfen aus den Golf-Staaten erhalten oder – im Fall der Muslimbrüder – über ein lange etabliertes Netzwerk an Wohlfahrtsorganisationen im gesamten Land verfügen. Meinen Wahlkampf musste ich wie alle Kandidaten der Revolution allein finanzieren: Unsere Plakate, Poster und Flyer waren aus eigener Tasche bezahlt.
Im Dorf hat mir mein Leben trotz aller Schwierigkeiten immer gut gefallen. Es ist ja mein Land. Ich habe keine Absicht, hier wegzuziehen. Klar fahre ich immer wieder beruflich nach Kairo. Aber meine Verwandten leben hier und ich fühle mich wohl. Leider hat sich durch die Revolution die wirtschaftliche Lage verschlechtert. Am schlimmsten ist es für Freiberufler. Sie bekommen kaum noch Aufträge. Und auch die Menschenrechtslage ist unter dem Militärregime nun noch schlechter als unter Mubarak: Es gibt mehr Folter, viele Revolutionäre werden auf der Straße verprügelt oder gar beschossen, etliche wurden von Militärgerichten verurteilt. Aber wir geben nicht auf. Wir werden weiter in politischen Gruppen und Jugendverbänden arbeiten, damit wir unsere Ziele erreichen.
Für die Demokratiebewegung war es ein großer Nachteil, dass der Militärrat die Macht sofort übernommen hat. Mal abgesehen davon, dass er dazu überhaupt nicht legitimiert war: Wir waren überfordert mit den vielen neuen Aufgaben. Einerseits wollten wir weiter demonstrieren und Druck auf das Militärregime ausüben. Andererseits hätten wir diese Zeit benötigt, um uns auf die Wahlen vorzubereiten. Für die meisten von uns hatte es Priorität, auf die Straße zu gehen, um unsere Forderungen zu stellen.
Doch immer wieder wird mir klar, wie viel wir bereits erreicht haben. Was mich glücklich macht, ist, wie die Menschen hier im Dorf ihr Schicksal nun selbst in die Hand nehmen. Die Bürger – auch auf dem Land – sind selbstbewusster geworden. Wenn es ein Problem gibt, demonstrieren sie lautstark vor der zuständigen Behörde. Und wenn nichts passiert, werden sie selbst aktiv. Vor ein paar Wochen gab es im Dorf kein Wasser mehr, denn die Rohre, die zu uns führen, waren defekt. Wir demonstrierten, doch es geschah nichts. Also zerstörten ein paar Dorfbewohner ein Hauptrohr, das auch die Region rund um die Pyramiden beliefert. Weil davon auch Touristen betroffen waren, wurden alle Rohre repariert und auch wir bekamen wieder Wasser.
Protokolliert von Karin Schädler
Dolmetscher: Mohamed Abdou