Im Dorf

„Mit der Seilbahn in die Schule“

Ein Interview mit der Regisseurin über das Leben in Schweizer Bergdörfern

Frau Schmid, was unterscheidet die Kinder aus den Bergen von denen in den Städten?

Wenn die Kinder aus den Bergdörfern in die Schulen im Tal kommen, betrachtet man sie als die ärmeren Bergbauern: Sie haben keine Handys, sie wachsen mit viel weniger Medien auf, sind anders informiert. Sie besitzen dafür diese Bauernschläue oder Bauernintelligenz, weil sie viel mehr über das praktische Leben Bescheid wissen.

Wie zeigt sich das?

Mir ist aufgefallen, wie die Kinder dort oben von klein auf Verantwortung übernehmen – für Tiere und Umwelt. Sie werfen nie Müll auf den Boden, weil sie wissen, dass Alufolie, Metall oder ein Flaschendeckel einer Kuh in den Magen geraten könnten. Die müssten sie dann schlachten.

Das hört sich nach idyllischem Landleben an.

Ich glaube nicht, dass das da oben eine Idylle ist. Eine heile Welt kann es nicht sein, weil die Kinder fast täglich mit der harten Wirklichkeit konfrontiert werden: Es gibt wilde Tiere wie Luchs oder Wolf. Die Kinder haben sehr weite Schulwege: Sie sind täglich zehn Kilometer zu Fuß, mit der Seilbahn und dem Bus unterwegs. Und ihre Familien sind nicht reich: Die Hügel sind steil, da kann man nichts anpflanzen. Die Bauern haben nur ihre Tiere: Kühe, Schafe, Ziegen, Kaninchen. Die Winter sind unglaublich lang. Das sieht im Film alles sehr romantisch aus, aber bis der Frühling kommt, dauert es bis April, Mai. Die Lebensbedingungen in den Bergdörfern sind sehr hart.

Trotzdem wirken die Kinder dort oben glücklich.

Ja, ich habe viel in Krisenländern über Kindersoldaten oder Kinderarbeit gedreht. Da geht es immer ums Überleben. Dort oben in den Bergen im Napf haben die Kinder eine Familie und ein Zuhause, zu dem sie immer zurückkommen können, auch wenn sie später im Tal arbeiten müssen.

Zieht es die Kinder aus den Dörfern in die Städte im Tal?

Nein, viele möchten bleiben. Aber nur ein Kind kann den Hof übernehmen. Da stellt sich den Kindern die Frage, was wird eigentlich aus uns? In Bolivien habe ich in einer ähnlichen Situation gedreht: mit Kindern, die auch zwei Stunden Schulweg hatten und in ärmlichen Verhältnissen lebten. Aber eigentlich wollten alle in ihrem Dorf leben bleiben. Die Menschen in den Städten sind sich zu wenig bewusst, wie abhängig sie von denen sind, die auf dem Land in den Dörfern leben.

Weshalb?

In den Städten wird man das erst wieder merken, wenn schwierige Zeiten kommen. In der Schweiz haben sie es im Krieg gemerkt. Als nichts mehr importiert werden konnte, mussten die Bauern oben in den Steilhängen Kartoffeln anbauen, damit die Menschen in den Städten zu essen hatten. Heute kommen die Städter als Touristen in die Berge und kaufen getrocknetes Fleisch und Holunderkonfitüre. Sie kommen in die Dörfer, kaufen ein und gehen wieder. Vielleicht merken die Menschen auch durch Filme wie diesen wie wichtig die Dörfer sind.

Glauben Sie, dass es dieses Leben im Dorf, das Ihr Film zeigt, auch in der nächsten Generation noch geben wird?

Meine Prognose ist, dass es dort oben in den Dörfern immer mehr Leben geben wird. Ein Beispiel für das, was sich dort oben verändert: Es gibt jetzt in leerstehenden Bauernhäusern Fischzuchten. Sie bauen in alten Scheunen Swimmingpools und züchten Lachs und Bergforelle. So tun sich neue Verkaufsmöglichkeiten auf. Und die Bauern wechseln in der Viehzucht plötzlich zu Texas und Galloway, Kühe, die sehr mageres Fleisch geben. Das ist von den Städtern so gefragt, dass die Bauern gar nicht mit der Produktion nachkommen. Die Bergdörfer haben eine große Zukunft und die Kinder werden sich langsam bewusst, was sie für Möglichkeiten haben.

Das Interview führte Rosa Gosch