Gefühl und Verstand
Was das Jaipur Literaturfestival über die politische Kultur Indiens erzählt
Der Sensor ist viel zu empfindlich. Und so fiept die Sicherheitsschleuse bei jedem, der sie passiert. In getrennten Schlangen stehen Männer und Frauen an, die das Jaipur Literaturfest besuchen wollen. Taschen werden geöffnet, Körper abgetastet und Besucherpässe gescannt. Als weiße Europäerin gilt man offenbar als harmloser Phänotyp und wird unkontrolliert durchgewunken. Polizisten in braunen Uniformen beaufsichtigen das Gelände. Die Literatur wird schwer bewacht, denn die geplante Teilnahme Salman Rushdies am Festival hat in Indien für Aufregung gesorgt.
Seit sechs Jahren findet in der Hauptstadt des nordindischen Bundesstaats Rajasthan Ende Januar ein internationales Literaturfestival statt. Mittlerweile ist es das größte in Südostasien.
250 Autoren waren in diesem Jahr eingeladen, unter ihnen internationale Literaturstars wie Michael Ondaatje und Ben Okri, provokante Denker wie der Evolutionsbiologe Richard Dawkins, die Bollywood-Titanen Gulzar und Javed Akthar sowie die britischen Dramatiker David Hare und Tom Stoppard. Unbekannte Dichter sind gekommen und Bestsellerautoren, Verleger, Agenten und Journalisten, so etwa David Remnick, der den New Yorker leitet, und Vinod Mehta, Chefredakteur von Outlook India. Der Superact jedoch ist die amerikanische Moderatorin Oprah Winfrey. Und Salman Rushdie – der eingeladen war, dem Festival aber aus Sicherheitsgründen fernblieb und trotzdem in den fünf Tagen sehr präsent ist.
Das Literaturfest in Jaipur ist ein offenes Festival: Jeder kann kommen, der Eintritt ist frei. Dementsprechend voll ist es auf dem Areal des Diggi Palace Hotels, wo die Veranstaltungen stattfinden. In einer Halle und drei großen Zelten aus pink-grün-gelben Stoffen wird vorgelesen und diskutiert. Die Menschen strömen von einer Lesung zur nächsten, Sitzplätze werden verteidigt und Programme studiert, Handys gecheckt und Freunde begrüßt. Amerikaner, die Bauchtaschen unter dem Hemd und Sonnenhüte auf dem Kopf tragen, stehen neben gelassenen Sikhs. Es gibt Cafés und Teebüdchen, wo Masala Chai in Wegwerfbechern aus Ton ausgeschenkt wird. Im VIP-Bereich erholen sich die Autoren vom Ansturm der Massen, im Buchladen erwerben die Massen die Bücher der Autoren. Vögel singen in den Bäumen, ab und an muht eine heilige Kuh. Die Atmosphäre ist friedlich, ein „Woodstock der Literatur“, wie der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer bemerkt.
Die Veranstaltungen heißen „Creativity, Censorship and Dissent“, „Tolstoy the Man“ oder „The Art of the Short Story“. Allein Oprah Winfrey tritt unter einem schlichten Titel auf – „O: Oprah in Jaipur“.
Salman Rushdie hingegen spricht hier nicht. Im Vorfeld des Festivals hatte der Vizedirektor einer islamischen Hochschule in einer Kleinstadt im Bundesstaat Uttar Pradesh gefordert, Rushdie die Einreise nach Indien nicht zu gestatten, obwohl dies rechtlich gar nicht möglich ist, denn der Autor ist in Indien geboren. Von möglichen Unruhen war von da an die Rede, und von Fanatikern, die den Autor oder das Festival angreifen könnten.
Rushdies Roman „Satanische Verse“ ist seit 23 Jahren in Indien verboten. Dennoch ist er in den vergangenen Jahren mehrmals bei Veranstaltungen in seinem Heimatland zu Gast gewesen, auch beim Literaturfest in Jaipur im Jahr 2007. Niemand hat sich daran gestört. In diesem Jahr ist es anders. Zum einen hat das Festival durch seine prominenten Gäste an Größe und Aufmerksamkeit gewonnen. 18.000 Menschen besuchen das Kulturfest allein an dem Tag, an dem Oprah Winfrey auftritt. Zum anderen ist da noch ein großes Politikum: die bevorstehenden Wahlen zum Landesparlament im bevölkerungsreichen Uttar Pradesh im Februar. Es sind Wahlen, bei denen es auf die Stimmen der muslimischen Bevölkerung ankommen wird. Und anscheinend ist es nicht schwer, konservative Hardliner mit der Verfemung eines Autors zu beeindrucken.
Bis zum Beginn des Literaturfests ist unklar, ob Rushdie nicht doch noch kommen wird. Er sagt schließlich ab, nachdem der indische Geheimdienst eine Todesdrohung gegen ihn bekanntgegeben hat. Doch am nächsten Tag meldet sich Rushdie erneut zu Wort: Die Geheimdienstwarnung sei eine Lüge gewesen, um ihn von der Veranstaltung fernzuhalten. Was folgt, ist ein Wirrwarr sich widersprechender Erklärungen von Geheimdienst und Polizei in den indischen Medien, flankiert von Statements der Parteien, kommentiert von Journalisten und Normalbürgern. Und auch in den Lesezelten sprechen alle über ihn. Meinungsfreiheit ist das große Thema des Festivals, verbunden mit der Frage, warum in der größten Demokratie der Welt überhaupt Bücher zensiert werden.
Bei einem Gespräch zum Arabischen Frühling erklären Autoren aus Ägypten, Palästina und dem Iran, wie froh sie seien, nach Jaipur eingeladen worden zu sein, an einen Ort, an dem sie frei über das diskutieren könnten, was in ihren Heimatländern geschehe. Und wie irritierend es sei, sich nun in der nächsten Debatte um Zensur wiederzufinden.
Um gegen die Abwesenheit Rushdies zu protestieren, wird kurzerhand auch das Programm verändert. Amitava Kumar und Hari Kunzru hatten eigentlich über „Gods and Men“ sprechen wollen, Kunzrus neuen Roman. Es wird ein Gespräch über das Zweifeln. „Zu zweifeln bedeutet, eine fragile Sicherheit zu gefährden“, sagt Kunzru, „aber wir Menschen leben in Beziehungen voller Zweifel.“ Die Autoren lesen wie mehrere andere Passagen aus Rushdies verbotenem Roman, bis ihnen jemand seitlich der Bühne ein Zeichen gibt, sofort damit aufzuhören. Unmittelbar nach Ende der Lesung wird ihnen von den Festivalleitern und deren Anwalt empfohlen, unverzüglich das Land zu verlassen. Andernfalls riskierten sie, verhaftet zu werden. Das Ereignis heizt die Debatte weiter an, ebenso eine angekündigte Videokonferenz mit Rushdie, die am Ende wiederum nicht stattfinden darf. Aktivisten muslimischer Organisationen hatten versucht, sich Zugang zum Festivalgelände zu verschaffen. Selbst ein virtueller Rushdie scheint zu viel Rushdie zu sein. Dieser twittert später: „In einer echten Demokratie dürfen alle sprechen, nicht nur diejenigen, die Drohungen aussprechen.“
Die drei Festivaldirektoren haben mit all dem nicht gerechnet, als sie Rushdie einluden. Einer von ihnen, William Dalrymple, sagt: „Es ist sehr traurig, dass er nicht da ist. Und ich verstehe alle, die das kritisieren. Aber am Ende ist man einfach verantwortlich für die Sicherheit aller Menschen hier. Das hier ist ein Literaturfestival, kein Militärcamp.“
Der Fall Rushdie stellt die anderen Themen des Festivals zwar in den Schatten, doch das Interesse der Besucher an den einzelnen Veranstaltungen ist enorm, die Begeisterung für die Autoren und ihr kreatives Handwerk ansteckend. Die Zuhörer lieben es, wenn Tom Stoppard erklärt, wie man die Geschichte von dem Mann, der im Morgengrauen seinen Pfau einfangen wollte, noch ein bisschen besser erzählen kann. Man müsse die Perspektive wechseln und sich fragen: Was denkt ein zufällig vorbeifahrender Autofahrer, der einen Mann im Pyjama mit einem Pfau unter dem Arm am Straßenrand stehen sieht?
Auch während langer Gespräche zwischen literarischen Persönlichkeiten bleiben die Menschen aufmerksam. Auffallend viele junge Frauen melden sich zu Wort. Ihre Fragen an die Autoren beginnen sie gerne selbstbewusst mit dem Satz: „Ich stimme nicht mit dem überein, was Sie gesagt haben.“ Der Verlegerin Urvashi Butalia aus Delhi gefällt be-sonders die Mischung von nationaler und internationaler Literatur in Jaipur: „Das Festival gibt Autoren aus ganz Indien eine Stimme, doch viele Inder sind natürlich wegen der internationalen Autoren hier. Weil sie keine Möglichkeit haben, zu Literaturfestivals im Ausland zu reisen.“
Doch auch die Themen aus Indien werden heiß diskutiert. In einem Panel berichten die amerikanische Reporterin Katherine Boo und der indische Autor Aman Sethi über ihre Recherchen in den Slums von Mumbai und Delhi. Ihre Bücher erzählen die Geschichten einzelner Menschen, aber es sind zugleich die Geschichten von Millionen Indern, die nichts vom neuen Wirtschaftsboom abbekommen haben, die nie in ihrem Leben ein Buch lesen werden und die dennoch nicht aufhören zu hoffen, ihr Elend eines Tages abzuschütteln.
„Jede Gesellschaft sucht sich ihre Gewinner und ihre Loser aus“, sagt Katherine Boo und Aman Sethi ergänzt: „Es geht nicht um Schicksal. Es geht darum, was wir aus unserem Leben machen – von dem Punkt aus, von dem wir gestartet sind.“
Das Festival endet mit zwei großen Podiumsgesprächen, einem über Meinungsfreiheit und einem über Glauben. Der Vertreter einer muslimischen Organisation erklärt, Freiheit sei ein Grundrecht, aber sie habe auch eine Verantwortung. Dafür wird er sowohl beklatscht als auch ausgebuht.
„All die Kreuzzüge sind totale Zeitverschwendung“, verkündet Richard Dawkins, der größte Atheist von allen: „Es gibt keinen Gott.“ – „Gott ist eine Frau!“, entgegnet die politische Aktivistin Aruna Roy. Gelächter und großer Applaus.
Die Intellektuellen haben das Recht, frei zu sprechen, tapfer verteidigt. Doch es geht bei dieser neuen Rushdie-Debatte nicht nur um den altbekannten Kampf gegen Zensur oder die Gefahr durch radikalislamische Gruppen.
Es geht um die aktuelle Verfasstheit der indischen Politik, um die politische Kultur einer neuen Weltmacht. Politiker, die bereit sind, im Kampf um die Wählergunst 20 Jahre alten Ressentiments gegen einen Autor öffentlichkeitswirksam nachzugeben, sind möglicherweise eine weitaus größere Gefahr als die Zensur des Buches selbst. Mittlerweile kann es ohnehin jeder Interessierte im Internet lesen.
Am letzten Abend sind alle erleichtert, dass niemand verletzt wurde in diesen Tagen und wenn, dann nur mit Worten. „Menschen sind empfindsam“, hat die Journalistin Shoma Chaudury auf einem der Panels festgestellt, doch wie soll ein demokratischer Staat mit den religiösen Empfindungen seiner Bürger umgehen? Zumindest muss er dafür sorgen, dass die Gefühlssensoren nicht ununterbrochen reagieren. Sie aber selbst zu manipulieren, ist höchst riskant. Es ist alles eine Frage der inneren Sicherheit.