Forscher sucht Dorf
Wer von fernen Orten etwas lernen will, lebt am besten dort. Vier Anthropologen erzählen
Russland: Ins Wasser murmeln
Als ich in den 1990er-Jahren in das nordrussische Dorf Solowjowo kam, gab es dort nicht mehr als 30 Haushalte. Die Menschen lebten in Holzhäusern, rund 300 Kilometer von Moskau entfernt. Die Bauern hatten keine Maschinen, ihre Arbeit war unglaublich hart. Sie mähten das Gras mit Sensen und luden es sich auf den Rücken. Auch ich machte mich nützlich, kochte, putzte, holte mit dem Eimer Wasser vom nahe gelegenen See und führte im Sommer die Kuh auf die Weide. Ich erinnere mich an den Moment, als mir zum ersten Mal klar wurde, wie viel schwere Arbeit nötig war, um eine einzige Kuh am Leben zu erhalten – das Tier, das die Menschen ernährte. Ich untersuchte in Solowjowo, wie symbolische Praktiken, zum Beispiel religiöse Rituale, fortlebten, obwohl der sowjetische Staat mit allen Mitteln versucht hatte sie auszumerzen, und ich entdeckte, wie schwer sich Dinge verändern, wenn sie Menschen in ihrem Innersten berühren.
Es gab zum Beispiel noch einen traditionellen Heiler, einen kleinen alten Mann, dem die Menschen ihre Probleme erzählten: dass sie an Krebs erkrankt waren, sich in jemand anderen verliebt hatten oder ihr Baby nicht aufhörte zu weinen. Der Heiler hörte zu, gab Ratschläge und ging dann hinters Haus. Dort murmelte er Beschwörungen in gekochtes Wasser, reichte es den Besuchern und empfahl ihnen, dreimal am Tag davon zu trinken. Er nahm kein Geld dafür, die Menschen brachten ihm Schokolade, Fisch oder etwas Tee. Der Heiler lebt noch heute, aber die meisten Russen, die ich in Solowjowo kannte, sind tot. Nur noch fünf Menschen wohnen im Dorf. Rinder gibt es keine mehr, nur noch ein paar Hühner. Die kleinen Dörfer in Russland sterben aus.
Dr. Margaret Paxson, geboren 1965 in Waukegan, Illinois, lebte von 1994 bis 1995 im russischen Dorf Solowjowo. Das Dorfleben beschrieb sie in ihrem Buch „Solovyowo: The Story of Memory in a Russian Village“ (Indiana University Press, Bloomington, 2005).
Irland: Es lebe das Leben
Doolin im County Clare ist berühmt für seine traditionelle irische Musik. Es gibt gewissermaßen zwei Doolins: das ruhige Winterdorf mit nur 600 Einwohnern und das von Touristen bevölkerte Sommerdorf, das an der Küste in einer wunderschönen Landschaft liegt. Ich arbeitete dort in einem Pub – ein idealer Ort für einen Anthropologen, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und herauszufinden, wie Tourismus und Kommerzialisierung sich auf die traditionelle Musikszene auswirken. Viele Touristen glauben, dass die Musiker in den Pubs spontan zu den Instrumenten greifen und zu spielen beginnen, dabei werden sie für ihren Auftritt bezahlt. Amerikanische Touristen, die Riverdance kennen, haben bestimmte Erwartungen an die Musik und sie bekommen, was sie wollen, denn das Publikum muss in Stimmung gebracht werden. Viele glauben, dass die traditionelle Musik pur irisch sei, tatsächlich jedoch entwickelt sie sich schon lange global.
Vor 150 Jahren emigrierten Iren nach der großen Hungersnot und zogen in Länder wie Amerika oder Australien. Von dort brachten sie Musik in ihre Heimat zurück. Heute erlebt man in Doolin einen überraschend bunten Mix an Musikern aus Frankreich, Südafrika, Amerika, aus der ganzen Welt, die für ein internationales Publikum spielen. Viele davon sagten mir aber auch, dass sie einmal in der Woche gerne in einem ruhigen Pub spielen – für sich, abseits der Touristenpfade. Während meiner Zeit im Dorf starb der alte Mann, nach dem ein wichtiger Pub benannt war. Drei Tage wurde er zu Hause aufgebahrt. Menschen sangen Lieder neben dem Verstorbenen, in der Küche erzählte man sich beim Whiskey Geschichten über ihn. Zum Begräbnis traten viele Musiker auf, ein Geschichtenerzähler tanzte sogar. Anstatt seinen Tod zu betrauern, wurde sein Leben gefeiert.
Dr. Adam R. Kaul wurde 1973 in Minneapolis, Minnesota, geboren und forschte zwischen 2002 und 2003 im irischen Dorf Doolin. Dazu erschien sein Buch „Turning the Tune. Traditional Music, Tourism, and Social Change in an Irish Village” (Berghahn, Oxford/New York , 2009).
Zypern: Fühl dich wie zu Hause
Ich hörte meinen griechisch-zypriotischen Vater auf Reisen oft sagen: „Hier ist es schön, aber lange nicht so wunderbar wie in Larnakas.“ Sein altes Heimatdorf, aus dem er fliehen musste, liegt im Norden Zyperns und heißt auf Türkisch Kozan. Seit der Teilung Zyperns 1974 wohnen dort nur noch türkische Zyprioten. Als ich selbst in das Dorf meines Vaters ging, interessierte mich, was den heutigen türkischen Bewohnern Heimat bedeutet. Manche griechischen Zyprioten sprechen deshalb nicht mehr mit mir. Für sie bin ich eine Verräterin. In der türkisch-zypriotischen Familie, bei der ich wohnte, produzierten wir gemeinsam Käse. Abends wurde Brot gebacken. Überrascht hat mich die fehlende Privatsphäre. Wenn ich duschte, kam die Mutter ins Bad, um mit mir über Fleischklößchen zu sprechen. Und die Töchter hatten keine Scheu, ihre Beine auf dem Balkon zu enthaaren.
Wie sie politisch dachten, verrieten mir die Dorfbewohner erst nach einem Jahr: Sie trauten den griechischen Zyprioten nicht, wollten selbst bei einer Wiedervereinigung eine Art Grenze behalten. Ein Mann sagte: „Wir leben in Zypern unter einem Dach, aber in zwei Zimmern.“ Sehnsucht nach ihren alten Dörfern im Süden haben sie nicht. Sie fühlen sich im Norden zu Hause. Ganz anders die griechischen Zyprioten, die seit der Öffnung wie Pilger über die Grenze gehen, Kirchen und Friedhöfe besuchen, voller Nostalgie für ihre alte Heimat. Einmal war ich dabei, als sich griechische Zyprioten ihr früheres Haus ansahen. Die Bewohner führten die Besucher freundlich herum – ohne Feindseligkeit.
Das frühere Haus meines Vaters ist verlassen und verfällt. Was mich jedoch weit mehr betroffen machte, war zu sehen, wie Menschen auf dem Friedhof, auf dem mein Großvater liegt, ein Barbecue veranstalteten. Ich erzählte meinen Gastgebern davon und sie verstanden meinen Ärger.
Dr. Lisa Dikomitis, geboren 1978 im belgischen Menen, lebte zwischen 2004 und 2008 immer wieder für mehrere Monate in Kozan/Larnakas tis Lapithou. Über ihre Studien erschien unter anderem „Cyprus and Its Places of Desire. Cultures of Displacement Among Greek and Turkish Cypriot Refugees” (IB Tauris, London, 2012).
Pakistan: Geben und Nehmen
Ich habe in Pakistan schnell gelernt, Männern meiner Größe keine Komplimente über ihre Kleidung zu machen. Denn dann nahmen sie die jeweiligen Stücke ab und schenkten sie mir. Die Menschen im Dorf Bhalot sind unglaublich gastfreundlich. Trotzdem geraten sie untereinander ständig in Konflikte – etwa um Grund und Boden. In Bhalot im Norden der Provinz Punjab leben zwischen 5.000 und 10.000 Menschen, genau ist das schwer zu sagen. Ich wohnte dort als Gast bei Männern, denen das Land um das Dorf herum gehörte. Manche Dörfler waren deshalb besonders freundlich zu mir, andere skeptisch. Um Vertrauen aufzubauen, half es, wenn ich Bilder meiner Familie zeigte, denn den Pakistanern war es wichtig, mich in meinem Umfeld zu sehen.
Als Anthropologe interessierte mich die Kultur des Schenkens. In Pakistan tauscht man nicht einfach Objekte aus, sondern gibt ein Stück von sich selbst. Konflikte entstehen, wenn zu viel, aber auch, wenn zu wenig gegeben wird. Ich sah, wie ein Mann, der von seinem Cousin aus den USA ein Mobiltelefon mitgebracht bekam, dieses wütend aus dem Autofenster warf. Er hielt es für zu billig und verstand es deshalb als Zeichen, dass er dem Verwandten nicht so wichtig war. In Bhalot entdeckte ich auch eine Tradition, die es Männern erlaubt, auf friedliche Art miteinander um die Vormachtstellung zu konkurrieren: das Dég. Bei diesem Ritual, das beispielsweise bei der Geburt eines Kindes oder der Rückkehr von der Hadsch stattfindet, sind alle Dorfbewohner eingeladen, Reis mitzuessen. Je mehr Kessel Reis der Gastgeber aufbietet, desto klarer deklariert er seine Machtposition. In Bhalot habe ich auch gelernt, dass Pakistaner Freundschaften nicht leichtfertig aufgeben. Selbst wenn die Menschen dort sehr theatralisch auf Konflikte reagieren, schimpfen und mit dem Gewehr in die Luft schießen, können sie am nächsten Tag wieder zusammen lachen.
Dr. Stephen M. Lyon, geboren 1965 in Huntsville, Alabama, lebte von 1998 bis 1999 im pakistanischen Dorf Bhalot. Dazu erschien sein Buch „An Anthropological Analysis of Local Politics and Patronage in a Pakistani Village“ (Edwin Mellen Press, Lampeter, 2004).
Protokolliert von Carmen Eller