Der Traum von der Weite
Über die Freiheit, die im Osten liegt, und Dörfer, welche die Seele prägen
Ich bin aus dem Osten. Zwar bin ich in Warschau geboren, aber mental bin ich aus dem Dorf und aus dem Osten. Meine Eltern kamen von dort. Aus dem östlichen Masowien, aus Podlasie. Angespült von der großen Nachkriegsemigration. Die zerstörten, entvölkerten Städte brauchten Hände für den Wiederaufbau. Die aufstrebende kommunistische Industrie brauchte Proletariat. Die Landbewohner verließen ihre ärmlichen, übervölkerten Dörfer und begannen ein bürgerliches Leben. Es war ein einmaliges gesellschaftliches Experiment.
Eine wahre Völkerwanderung. Meine Eltern kamen nach Warschau, angelockt vom Trugbild der Großstadt, von der Versuchung, ihr Schicksal zu wenden. Doch die Bindung an ihr früheres Leben riss nicht ab. An die Geschichte vieler Generationen, an das Erbe ihrer bäuerlichen Vergangenheit und Kultur. Ich denke, in ihrer tiefsten Seele blieben sie immer Dorfbewohner. Wie die meisten Polen. Ihre Mentalität war immer dichotomisch, zerrissen zwischen der Freiheit (und Willkür) des Adels und der Unfreiheit der Bauern. Denn die Bauern, die die Mehrheit darstellten, blieben bis 1861 Leibeigene. Im Grunde genommen lebt mein Land seit Jahrhunderten in bürgerkriegsähnlichem Zustand zwischen den Herrschenden und den Unterdrückten. Innerhalb desselben Volkes.
Jedenfalls wurden meine Eltern nie zu Bürgern. Die Stadt machte ihnen Angst. Sie fürchteten, entlarvt zu werden. Wie Hunderttausende andere, die das Material für das neue System bildeten, das Kanonenfutter der Weltrevolution. Immer wieder kehrten sie aufs Land zurück. Wir waren nicht reich, also verbrachte ich die Ferien immer bei den Großeltern. Im Osten. Vom Dorf meines Vaters bis zur sowjetischen Grenze waren es fünfzig Kilometer. Heute ist dort Weißrussland. Ich setzte mich an das hohe Ufer des Bug und schaute auf die andere Seite; da schien ein anderer Kontinent zu liegen, eine andere Wirklichkeit. Da begann die sandige Ebene, die sich bis ans Ende der Welt zog. Von dort schien ein kühler Wind zu wehen und – wenngleich Osten – ein Schatten zu fallen.
In Warschau wohnten wir am rechten Weichselufer. Der Stadtteil hieß Praga und war der „schlechtere“ Teil der Stadt. Der „bessere“ lag jenseits des Flusses und verkörperte die europäischen Sehnsüchte meiner Heimat. Aus Gründen der Selbsttherapie beziehungsweise aus einer gewissen geistigen Verwirrung heraus nannte Warschau sich selbst das Paris des Ostens. Das galt natürlich nur für das linke Ufer. Was war dann das rechte Ufer? Das Moskau des Westens? Weit gefehlt. Es erinnerte ein wenig an ein Lager. Einstöckig, manchmal noch aus Holz. Als hätten diejenigen, die hier ankamen, keine Kraft mehr gehabt, ans andere, bessere Ufer zu gelangen, als hätten sie sich daher einen provisorischen Unterschlupf gebaut und würden auf eine Gelegenheit warten.
Proletariat, Lumpenproletariat, jüdische Unterschicht, Ankömmlinge aus all den halbdörflichen Städtchen, wo hinter dem letzten Haus die Kartoffeläcker begannen, Landbewohner, die ihrem Schicksal entrinnen wollten, meine Eltern. Parterre, ein, zwei Stockwerke, unverputzter Backstein, auf der Straße Pflaster, zum Teil Katzenkopf. Im Herbst fuhren schwere Pferdewagen vor, beladen mit Kohle und Kartoffeln. Zottelige, rußbeschmierte Kutscher trugen für ein Trinkgeld die Kohle in den Keller, in speziellen Körben, die an die fünfzig Kilo fassten. Sie sahen aus wie Bauern von Breughel in Wattejacken und Filzstiefeln. Im Winter roch die frostige Luft nach Kohlenrauch.
Prachtvolle, elegante Gebäude, Verzierungen gab es nicht. Hier regierte das Provisorium. Als könne man alles ohne Bedauern wieder verlassen und weiterziehen. Wohin? Natürlich nach Westen. Lager, niedrige Häuser, Holz, Erinnerungen – all das hinter sich lassen, die ganze vom unendlichen Himmel erdrückte Ebene, die erst am Pazifik endet. Die Ebene und den Himmel des Ostens.
Nach Osten fuhr niemand. Von ihm träumte niemand. Höchstens machten sich die ehemaligen Dorfbewohner dorthin auf, um ihre Familien zu besuchen und Fleisch zu holen – Mangelware im Kommunismus. Und um sich ein wenig zu Hause zu fühlen. Gleich hinter dem polnischen Osten waren die Sowjets. Dort wollte so gut wie niemand hin. Doch mich brachte mein Vater 1972, 1973 und 1974 zum Busbahnhof, von dem Busse Richtung Osten fuhren. Die wartende Menschenmenge roch nach Dorf. Am meisten die älteren Frauen, die im Morgengrauen Milchprodukte und Eier in die Stadt gebracht hatten. Käse, Butter, Sahne, in Weidenkörben und Blechkannen. Jetzt waren die Gefäße leer, aber der Geruch war noch da. Außerdem roch die Kleidung – der Männer wie der Frauen – völlig anders als die der Stadtbewohner. Der Geruch war irgendwie festlicher, feierlicher. Man benutzte diese Kleider nicht jeden Tag, sie lagen in Schränken und Kisten verschlossen, im Dunkeln, in der Aura von Naphthalin und aromatischen Wiesenkräutern.
Dann kam der Bus, die Menschen füllten ihn restlos, dicht an dicht, sogar an Stehplätzen fehlte es. Es war Juli, die Gerüche vermischten und verdichteten sich. Die Kleider der Männer waren vom bitteren Aroma dunklen Tabaks durchdrungen. Manchmal gelang es mir, einen Platz am Fenster zu ergattern. Ich konnte den Blick nicht von der Welt losreißen. Ich spürte, dass die Landschaft mich verschluckte, in sich einsog. Es war ein konkretes, körperliches Gefühl. Die Stadt ging scheinbar zu Ende, aber im Grunde zog sie sich weiter, bedeckte einen immer größeren Raum mit einer immer dünneren Schicht. Unmerklich verwandelte sich Stadt in Land. Der Unterschied war kaum wahrzunehmen, denn die Materie blieb in ihrer Unscheinbarkeit unverändert: Holz, roter Backstein, grauer Putz, vom Regen rötliches Blech. Unter dem Gewicht des großen Himmels, der aus dem Wasser des Pazifiks aufstieg (so stellte ich es mir vor), fiel sie noch mehr in sich zusammen.
Viele Jahre später, als ich viel weiter vordrang, in die Gegend von Tschita und Ulan-Ude, an die chinesische Grenze, fand ich die Materie, die menschliche Zivilisation, die vor der unendlichen Natur schützen sollte, ähnlich brüchig. Man muss irgendwo zwischen Zabajkalsk und Krasnokamensk in der Steppe stehen, Hunderte von Kilometern auf die baumlose, wellige Ebene blicken, ohne eine Spur von Schatten, auf die menschlichen Siedlungen, die in der Endlosigkeit verstreut sind wie eine Handvoll Krümel, um zu begreifen, was dieser Osten ist, der auf dem Territorium meines Landes endet. Dorthin musste ich fahren, um die Zwiespältigkeit, die Ambivalenz, die Zerrissenheit Polens zu verstehen. Die Holzhäuser unterschieden sich kaum von denen, die ich aus der Kindheit kannte. Sie standen seit Jahrhunderten und sahen doch provisorisch aus.
Im Osten Europas fegte sie immer wieder der Krieg weg. Dort, im Fernen Osten, wurde ihre Existenz von der Natur infrage gestellt. Sie waren zu klein und es waren zu wenige, als dass sie ein Gefühl der Geborgenheit hätten geben können. Nicht umsonst war die einzige über Jahrhunderte bewährte Form der Existenz das Nomadentum: Bewegliche Häuser und Siedlungen, Jurten, Lager kamen mit dem Überfluss an Raum zurecht, indem sie ihn durchmaßen. Da sie ihn weder besiegen noch sich vor ihm schützen konnten, akzeptierten sie ihn einfach.
Damit will ich nicht sagen, dass ich mich wie ein Tatar fühle. Nein. Es ist einfach so, dass mich der „östliche“ Teil der Persönlichkeit meines Landes schon immer mehr angezogen hat. Sein ewiger innerer Widerspruch. Sein Seelenkampf.
Neben dem Busbahnhof, von dem aus ich an den Bug in die Sommerferien fuhr, befand sich das Zehnjahresstadion. Es hieß so, weil es zum zehnten Jahrestag der Entstehung des kommunistischen Polen in Betrieb genommen wurde. In diesem Stadion spielte sich jahrelang nicht viel ab. Es gab keine Infrastruktur, nicht einmal Beleuchtung. Eine gigantische Mulde aus grauem Stein. Wie der Krater eines erloschenen Vulkans. Nach dem Fall des Kommunismus wurde das Stadion wiederbelebt. Es verwandelte sich in einen der größten Märkte Europas. Auf der Krone des Stadions, auf einer Dutzende von Hektar umfassenden Fläche, traf der Osten auf den Westen. Turkmenen, Tadschiken, Usbeken, Menschen aus dem Kaukasus – alle Völker der früheren Sowjetunion. Außerdem Chinesen, Vietnamesen, Mongolen und eine beträchtliche Zahl von Schwarzen. Dort, wo einst Frauen in geblümten Tüchern an der Haltestelle standen, ballte sich jetzt eine Menge von mehreren Tausend Menschen.
Auf dem Europamarkt – so der offizielle Name – konnte man alles kaufen. Das Fell eines sibirischen Tigers, Elfenbein, Kalaschnikows, Millionen von CDs mit kopierter Musik und Filmen, seltsame Zigarettenmarken wie Carmel, unvorstellbare Mengen Kleider, Adidas-, Puma-, Nike-Schuhe, alles gestapelt, in Kartons, in Großhandelsmengen. Außerdem blühte das Glücksspiel, es gab mobile Bibliotheken in mehreren Sprachen, denn Handel bedeutete vor allem Warten, und Lesen half dabei. Die am zahlreichsten vertretenen Nationen – wie die Vietnamesen – bildeten eigene Viertel mit Gastronomie und Dienstleistungen. Alles aus Zeltstoff, Plastikfolie, provisorisch, Wegwerfsachen. Die Verkäufer bezahlten eigene Kundschafter, die vor Geheimpolizisten warnten, und gewannen so Zeit zum Verstecken illegaler Waren. Der Markt war eine Welt für sich. Hier kauften normale Leute ein, Besitzer kleiner Läden kamen hierher, um sich mit billiger Ware zu versorgen. Sowohl aus Polen als auch aus der Ukraine oder Weißrussland. Ich liebte es, in die Menge einzutauchen und all den Sprachen zu lauschen, die ich nicht identifizieren konnte. Schwarze und Turkmenen versuchten, sich auf Polnisch zu verständigen.
Der Tod des Marktes war symbolisch. An seiner Stelle, an der Stelle des alten Stadions, entstand das Nationalstadion. Modern, extravagant, erwartet es die Fußball-Europameisterschaft. Die EM ist eines der Rituale, die unsere Zugehörigkeit zu Europa bestätigen sollen. Mehr sogar – wir exportieren diese in den Osten, in die Ukraine, in gewisser Weise unsere frühere Kolonie.
Wenn ich in Warschau bin, fahre ich an diesem Stadion gleichgültig vorbei. Noch nie hatte ich Lust, es mir anzusehen. Es interessiert mich nicht, wie mich auch die Niederlagen des polnischen Fußballs wenig interessieren, für die es sicher eine supermoderne Arena abgeben wird. Im Vergleich zu dem großen euroasiatischen Markt erscheint mir das Stadion banal und langweilig. Es bedeutet nichts anderes, als dass wir im vereinten Europa wie alle anderen sein wollen. Wir wenden uns symbolisch von unserem östlichen Erbe ab. (Die Teilnahme der Ukraine bestätigt dies nur, denn sie wurde eingeladen, als sie die europäischen Erwartungen zu erfüllen schien. Heute käme kein Mensch mehr auf die Idee, dort Spiele zu organisieren.) Wir versuchen, den verfluchten Ort am Scheideweg, an der Grenze feindlicher Mächte hinter uns zu lassen, diese Ebene, an der die durchmarschierenden fremden Armeen solchen Gefallen fanden. Wir wollen uns nicht erinnern, dass dieser Ort einzigartig ist, weil er uns erlaubt, intensiv und doppelt zu leben. Der eigenen Identität immer noch unsicher, zerrissen zwischen Ost und West, ein wenig Verräter, ein wenig Betrüger, verdrängen wir das eine, um das andere vorzugaukeln. Wir bestehen darauf, irgendwelche erfundenen europäischen Kostüme anzulegen, weil wir vergessen haben, dass Europa einmal dort war, wo wir waren. Nur dass dies ein anderes Europa war: offen für den Osten, für seine unüberschaubare Weite, seinen Raum, der uns (man muss hinter den Ural und den Baikalsee fahren, um das zu verstehen) an Religion denken lässt.
Das Festland im Osten war für uns das, was für den Westen im 15. und 16. Jahrhundert die Ozeane waren. Jahrhundertelang wanderten wir in diese Richtung und trafen auf kaum besiedelte, ursprüngliche, schöne Landstriche. Dort machten wir die Erfahrung echter Freiheit. Sie hatte viel Wildes. Die Städte dort glichen Lagern. Die Materie der Zivilisation, die sich im Westen in solcher Fülle sublimierte, existierte dort kaum. Der Raum dominierte alles. Man stelle sich jemanden vor, der ein Stück Niemandsland in Besitz nimmt, sich aufs Pferd setzt, mehr als eine Woche braucht, um rundherum zu reiten und unterwegs auf Spuren tatarischer Lagerfeuer stößt. Ja, bis zu einem gewissen Punkt war unser Blick nach Osten gerichtet. Im Westen war einfach kein Platz mehr. Er war erfüllt von Städten, Gebäuden, Ideen, von einer Zivilisation, deren späte Kinder wir waren, so spät, dass uns Zweifel plagten, ob wir wirklich ihre rechtmäßigen Erben seien.
Aber schließlich stellte sich uns Russland in den Weg, als dessen Bestimmung sich der Osten bis zu seinen fernsten Rändern erwies. Von dieser Niederlage haben wir uns nie richtig erholt. Umso mehr, als wir uns durch die (wenn auch problematische) Zugehörigkeit zum Westen Russland überlegen fühlten. Russland, so kann man sagen, hat uns zu einer spezifischen Art von Gefängnis verurteilt: Wir konnten weder hoffen, dass sich unser Schicksal im Osten erfüllt, noch konnten wir vom Westen träumen, denn für ihn waren wir nur der Rand, eine ferne Provinz. Wir wurden zum Grenzgebiet, und aus diesem Grenzgebiet versuchen wir etwas wie ein richtiges Land zu machen. Eine Reise gegen den Strom der Zeit hat etwas Berührendes.
Einst kamen wir aus der Tiefe des Kontinents, um auf der kleinen Halbinsel zu wohnen, die sein Ende bildet. Wir gründeten Städte und Staaten, schufen eine Geschichte von unglaublicher Komplexität, Größe und Grausamkeit. Wir errichteten eine Zivilisation, die so kompliziert ist, dass wir ihre Mechanismen heute nicht mehr verstehen. Wir schufen eine so raffinierte Kultur, dass sie oft die eigenen Grundlagen negieren musste, um weiterzubestehen. Um sich zu erneuern, hat sie Selbstmord begangen. Und das alles auf diesem kleinen Fetzen Land, dieser winzigen Halbinsel, die an einen Fleck erinnert, einen zufälligen Spritzer Materie. Die Dichte der Ereignisse, die Vielzahl historischer Schichten, die Mannigfaltigkeit der Bilder, die Anhäufung der materiellen Beweise für Genialität, kurzum, das Europäische, tritt hier in solcher Konzentration auf, dass es kaum vorstellbar ist, dass in dieser Enge noch etwas Platz findet.
Ich bin ein Bauer und Provinzler aus dem Osten. Im Westen geht mir die Luft aus. Dort gibt es zu viele Dinge, Ereignisse und Ideen, die ich nicht verstehe. Ich zwänge mich zwischen ihnen durch und ersticke fast. Wie in einer Menschenmenge. Klar, ein bisschen ist es meine Welt, aber nicht so ganz. Mir fehlt es hier an Raum, in dem Denken, Gegenwart, Sinne und Erinnerung nicht auf fertige, vorgeformte Bilder stoßen. Mit anderen Worten, es fehlt mir an Vakuum, in dem die Fantasie wirken kann. An Niemandsland, nur halbwegs unterworfen, an dem Raum, von dem aus wir einst aufbrachen. Es interessiert mich einfach mehr, wer wir waren, als wer wir sind.
Wenn man in einer klaren Nacht über Sibirien fliegt, sieht man unten nichts. Finsternis. Bisweilen leuchtet rötlich ein Feuer in der Taiga, wie der Funken einer Zigarette im Dunkeln. Dann wieder nichts, nur Schläfrigkeit und Motorengeräusch. Wenn man Glück hat, taucht im Fenster links eine purpurne waagerechte, entsprechend der Erdkrümmung leicht nach unten gebogene Spalte auf. Der Schein des Polarlichts. Feuer und kalter Glanz des Pols. Als würde man die Erde verlassen. Als wäre man unterwegs in Richtung des Früheren, des Unbeschreiblichen, in Richtung der Zeit, als wir noch Projekt waren. Gegenüber der unsichtbaren Sonne, in einem supermodernen Produkt der Zivilisation, in eine Richtung, in der die Zivilisation so dünn ist, dass sie unsichtbar wird.
Das Wilde, Alte, Bedrohliche, Unmenschliche scheint mühelos durch. Nicht ausgeschlossen, dass ich durch die Wahl dieser Richtung meinen verborgensten Ängsten und Wünschen Ausdruck verleihe. Ich versuche Europa und dessen perfekter Zivilisation, in der ich mich ein bisschen wie ein Barbar fühle, zu entwischen. Zugleich ist der Abgrund des Ostens eine Antwort auf unser Verlangen nach der Begegnung mit etwas, das wir nicht begreifen und das uns restlos verschlingen kann. Vielleicht fällt es uns in unserem Grenzgebiet schwerer, an die Zivilisation zu glauben, weil sie, wie die Religion, von außen zu uns kam. Deshalb zieht uns eher das an, woher wir gekommen sind, als das, was wir geworden sind oder sein werden.
Nach fünf oder sechs Stunden landet das Flugzeug in Irkutsk. Eine Woche später sind wir in Zabajkalsk. Das ist ein Städtchen an der chinesischen Grenze, Übergang für Bahn und Autoverkehr. Die Holzhäuser erinnern mich an das Dorf, wo ich als Kind meine Ferien verbrachte. Grau, bescheiden, hier und da streunende Tiere, eine Architektur nach menschlichem Maß; nur hundertmal mehr niedergedrückt vom großen Himmel der Steppe. Auf der anderen Seite, einige Kilometer entfernt, ragt die chinesische Stadt Manjur auf. Aus der Grasebene wachsen ohne jede Vorwarnung Hochhäuser mit goldenen Kuppeln. Die Stadt sieht aus wie eine Fata Morgana. Alles innerhalb von zehn Jahren erbaut, wie uns Einheimische sagen. Ein kleines Manhattan in der Steppe. Für den Handel mit den Russen. Sogar eine große orthodoxe Kirche haben sie. Und eine gigantische blaue Matrjoschka. Plötzlich bricht alles ab, dahinter Steppe. Das unvergleichliche Nichts der Inneren Mongolei.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall