„Arbeiten, Ruhe finden, das Panorama genießen“
In der westlichen Welt ziehen immer mehr Städter aufs Land. Ein Gespräch über Wohlstandsmigration mit dem Geografen
Überall hören wir von sterbenden Dörfern, von der Verstädterung der Welt. Sie untersuchen das Gegenteil, die Counterurbanisierung. Was genau ist das?
Städte wachsen, wenn die Bevölkerung vom Land in die Stadt zieht. Das nennt man Urbanisierung. Der umgekehrte Vorgang ist entweder die „Suburbanisierung“, wenn sich die Stadtmenschen am Stadtrand niederlassen, oder die „Counterurbanisierung“, wenn sie weiter wegziehen, aus dem Einzugsbereich der Stadt hinaus. Ende der 1990er-Jahre habe ich Counterurbanisierung in der Sierra Nevada in Kalifornien entdeckt. Ich wollte eine touristische Arbeit über Wintersportorte schreiben, in die viele Österreicher und Tiroler ausgewandert sind, und habe bemerkt, dass diese Orte boomten, und zwar in einer Zeit, in der Kalifornien schon Wanderungsverluste zu verzeichnen hatte.
Was sind Wanderungsverluste?
Aus Kalifornien ziehen viel mehr Menschen weg, als neue hinzukommen, sieht man von den Hispanics einmal ab. Insgesamt verliert der Staat an einheimischer Bevölkerung, doch die Gebirgswelt in der Sierra Nevada erlebt eine große Zuwanderung. Die Menschen kommen als „urban refugees“, als Stadtflüchtlinge, aus San Francisco, San Diego, Los Angeles, Santa Monica und so weiter. Später musste ich aber feststellen, dass es sich hier nur bedingt um eine Counterurbanisierung handelt, denn die Hälfte des Jahres sind die Türen und Fenster der „Newcomer“ verschlossen, obwohl die Zuwanderer mit ihrem Erstwohnsitz in den Bergen gemeldet sind. Dafür hat sich ein neuer Begriff etabliert: Die „Amenity Migration“, auf Deutsch „Lifestyle-Wanderungen“ oder „Wohlstandswanderungen“.
Was unterscheidet die Wohlstandsmigranten von Touristen oder Besitzern von Wochenendhäusern?
Tourismus heißt: Man ist irgendwo fremd, bleibt nur eine begrenzte Zeit und arbeitet nicht. Der Amenity-Migrant arbeitet jedoch. Er zieht in ein Dorf, das annehmlicher, attraktiver erscheint. Es muss dort schöner sein, man muss sich durch den Umzug verbessern, man muss es sich auch leisten können. Doch diese Menschen geben ihr Haus oder die Wohnung in der Stadt nicht auf. Das ist Multilokalität, diese Menschen haben zwei oder auch drei Wohnsitze, die sie voll nutzen, nicht im Sinne von Wochenende und Freizeit, sondern für längere Zeitabschnitte. Manchmal, das gebe ich zu, ist die Abgrenzung von Tourist und Amenity-Migrant schwierig. Es gibt auch Touristen, die länger bleiben, und mancher arbeitet, ohne dass es so aussieht, zum Beispiel der Romanschriftsteller, der beim Wandern in den Bergen die besten Einfälle hat.
Ist die Wohlstandsmigration ein amerikanisches Phänomen?
Mit unserem Wissen aus der Sierra Nevada sind wir in die Alpen gegangen und haben festgestellt, dass auch dort, zumindest in gewissen Teilen, die Wohlstandsmigration keine Randerscheinung mehr ist.
Welche Gebiete der Alpen sind das?
Besonders die Regionen in den italienischen und französischen Alpen, die stark von Abwanderung betroffen waren. Angefangen hat die Bergflucht etwa 1880, als die Eisenbahn für jedermann zugänglich wurde. Da sind die Menschen auf der Suche nach Arbeitsplätzen und besseren Bildungsmöglichkeiten aus den Bergen in die nächstgelegene Stadt oder das größere Zentrum gezogen und kaum einer kam zurück. In weiten Teilen der italienischen Alpen und der französischen Westalpen ist die Bergflucht bis weit in die 1990er-Jahre hinein weitergegangen. Nur dort, wo sich Fremdenverkehr etablieren konnte, hat man die Dorfflucht stoppen können, weil Arbeitsmöglichkeiten entstanden. Zum Beispiel gibt es nirgendwo in Tirol ein Gebiet, das von Abwanderung betroffen ist, und auch nicht in Südtirol, im bayerischen Alpenteil oder der Ostschweiz.
Und die verlassenen Bergregionen in Italien und Frankreich füllen sich jetzt wieder?
Die Statistik zeigt, dass sich der Trend seit Mitte der 1990er-Jahre umkehrt. Ab dieser Zeit ist die Zuwanderung in die italienischen Alpen größer als die Abwanderung. Wir konnten belegen, dass sich auch in den Alpen ein gewisser Lifestyle bemerkbar macht: Menschen, die es sich leisten können und einen Beruf haben, bei dem sie nicht unbedingt im Zentrum bleiben müssen, suchen sich an einem für sie angenehmeren Ort ein Häuschen. Begünstigt wird diese Wanderung wohl auch durch die Klimaerwärmung. In den Städten der Poebene in Italien wird es in den Sommern inzwischen so heiß, dass die Menschen sich gerne für diese Monate in die kühleren Alpen zurückziehen. Eine ganz große Rolle spielen auch die verbesserten Kommunikationstechnologien, die es nicht mehr notwendig machen, jeden Tag zum Job nach Mailand oder Verona zu pendeln. Oft reicht es, einmal in der Woche zum Arbeitgeber hinunterzufahren und sonst vom Dorf in den Bergen aus zu arbeiten.
Wie viele Menschen ziehen von den Städten in die Alpen?
In den französischen Alpen gibt es fast keine Gemeinde mehr, die nicht wächst. In den italienischen Alpen hat der Trend später angefangen, aber auch dort wachsen sehr viele Gemeinden wieder. Pro Jahr ziehen 35.000 Menschen in die italienischen Alpen. Wenn man nur diejenigen zählt, die tiefer in die Täler der Alpen vordringen, sind es immer noch etwa 17.000. Das sind die echten Amenity-Migranten, die keine Pendler mehr sind, aber auch keine Aussteiger.
Was sind sie dann?
Da sind zum Beispiel die sogenannten Remigranten, also etwa der italienische Speiseeisverkäufer aus Deutschland, der älter geworden ist und in sein Bergdorf zurückkehrt. Dann sind darunter auch Ausländer, die irgendetwas Hübsches kaufen, weil sie Geld haben. Fast schon ein bisschen Spekulation. Und schließlich sind es die Bewohner von Städten in der Ebene. Das ist der größte Teil: Menschen, die einfach etwas Besseres zum Wohnen suchen, wo sie arbeiten können, Ruhe finden und ein Panorama genießen.
Das klingt nach einer Wanderungsbewegung, die vor allem aus Senioren besteht.
In Kalifornien sind nur ganz wenige Senioren dabei, weil mit 2.800 Metern die Orte in der Sierra Nevada zu hoch liegen. In den italienischen Alpen sind überdurchschnittlich viele ältere Menschen dabei, aber auch Familien mit Kindern, die sie jeden Tag ins nächste größere Dorf, das eine Schule hat, fahren müssen. Das bevölkert die Schulen auch wieder. Der Einfluss der Wohlstandsmigranten in den Alpen ist enorm.
Was verändern sie?
Es werden Häuser saniert und Straßen verschönert. Ganze Dörfer gewinnen an Attraktivität. Manche sehen aus wie touristische Orte, obwohl es dort gar keinen Tourismus gibt. Die wenigen Läden haben wieder mehr Käufer. Hier und da gibt es auch Innovationen und es entstehen Jobs. Ideen werden geboren und umgesetzt, zum Beispiel baut ein Zuwanderer eine Seilbahn. Die Amenity-Migration ist für die Alteingesessenen fast immer von Vorteil. Nur einen Nachteil hat dieser Trend: Die Grundstückspreise steigen. Doch das ist in den italienischen Alpen noch lange nicht so gravierend wie in der Sierra Nevada.
Und wie gestaltet sich das Zusammenleben im Dorf?
Die Neubewohner sind meistens sehr am Dorfleben interessiert. Ins Aostatal – in ein Gebiet, in dem man noch einen alten Schweizer Dialekt, das Walserdeutsch, spricht – ziehen zum Beispiel Turiner und Milanesen. Und diese italienischen Zuwanderer geben ihren Kindern, genauso wie die Heimischen es tun, deutsche Namen – Heidi oder Peter – und ihre Häuser heißt „Enzian“ oder „Edelweiß“. Wir haben solche Minderheitengebiete sehr genau unter die Lupe genommen. Dass kulturelle Minderheiten, die sich in diesen entlegenen Regionen ganz gut halten konnten, durch die Zuwanderer stärker assimiliert werden, ist nicht der Fall. Die Neuzuwanderer können in der Regel diese alten Sprachen nicht, aber sie tun sehr viel, um die kulturellen Traditionen am Leben zu erhalten. Sie organisieren Veranstaltungen, Tänze, traditionelle Feste. Auch hier ist der Vorteil meist größer als der Nachteil.
Das Interview führte Karola Klatt