Sprache | Libanon

Grenzenlos queer

Zum ersten Mal erscheint mit „The Queer Arab Glossary“ eine Sammlung von arabischem Slang der Szene – von liebevoll bis abwertend. Ein Gespräch mit dem Herausgeber
Marwan Kaabour und Zuher Jazmati stehen nebeneinander und lächeln in die Kamera

Marwan Kaabour mit dem Journalisten Zuher Jazmati auf der Buchvorstellung von „The Queer Arab Glossary“ in Berlin, 2024.

Interview von Zuher Jazmati

Marwan Kaabour, ich freue mich, dass wir uns hier in Berlin treffen, um über Ihr Buch „The Queer Arab Glossary“ zu sprechen. Wie nehmen Sie die queere arabische Community in Berlin im Vergleich zu der in London wahr?

Die arabische Diaspora in Berlin ist einzigartig, besonders die queeren Kreativen. Diese Community leistet einen aktiven Beitrag zum kulturellen Leben der Stadt, kümmert sich um soziale Belange und fungiert als wichtige Drehscheibe.

Es war mir wichtig, das Buch hier vorzustellen, denn die queer-arabische Szene Berlins ist nicht nur sehr lebendig, sondern hat auch eine besonders reiche Geschichte. Für mich war es entscheidend, direkt mit einer Community in Kontakt zu treten, die sichtbar Grenzen überschreitet und dabei vor einzigartigen Herausforderungen steht.

Sie sind in Beirut aufgewachsen und leben heute in London. Welche Einflüsse haben Ihre Identität und Ihr Queersein in jungen Jahren geprägt?

Ich bin dankbar, in einem Haushalt aufgewachsen zu sein, in dem die Selbstentfaltung gefördert wurde. Als „femme-Kind“ durfte ich ich selbst sein, und Figuren wie die ägyptische Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin Sherihan im Fernsehen haben mich berührt, obwohl ich damals nicht ganz verstanden habe, warum.

Wassermetaphern kamen häufig vor, mit denen jemand als fließend oder weich charakterisiert wird

Ich habe mich immer zu gewissen Darstellungen von Queerness hingezogen gefühlt, die dann auch meine Identität geprägt haben. Später hat mir meine Erfahrung als Grafikdesigner geholfen, diese Gefühle durch Storytelling zu verarbeiten. So entstand „Takweer“ – ein Projekt, das meine arabische und meine queere Identität durch Kunst verbindet.

Können Sie „Takweer“ erklären?

Die Onlineplattform „Takweer“ habe ich 2019 gestartet, doch die Idee dafür kam mir schon früher, als ich in Beirut das Graffiti „Queers were here“ sah. Jemand hatte als Kommentar das Wort „Takbir“ dazugeschrieben – eine feierliche arabische Formulierung, eine Lobpreisung. Als ich das las, entstand in meinem Kopf „Takweer“, also eine Mischung aus „Takbir“ und „queer“.

Auf Arabisch bedeutet es „in Kugelform erschaffen“, was auf poetische Weise eine aus queerer Sicht neu gedachte Welt andeutet. Bei „Takweer“ geht es darum, queere arabische Geschichten zu untersuchen, persönliche mit kollektiven Erfahrungen zu verknüpfen und eine Erzählung von Marginalisierten bekannter zu machen.

Dūdakī, bedeutet übersetzt „mit Würmern durchsetzt“.

„The Queer Arab Glossary“ ist gewissermaßen ein Wörterbuch. Sie erfassen darin Begriffe, deren Bedeutung variieren kann. Welche Erfahrungen haben Sie bei diesem Projekt gemacht?

Es war bereichernd. Ich wollte die gesamte linguistische Landschaft abbilden und sowohl Begriffe, mit denen man Respekt ausdrückt, als auch solche, die abschätzig gemeint sind, mit drin haben. Mein Ziel war nicht nur, das Positive zu feiern und das Negative zu kritisieren, sondern zu verstehen, wie Sprache Identität prägt.

Ich bin mit Neugier und Respekt an die Sache herangegangen. Das hat mir geholfen, auch die verletzenden Ausdrücke sozusagen durch die Linse linguistischer Kreativität zu betrachten. Die Vielfalt des Arabischen spiegelt sich in diesen Begriffen wider, und dieser Komplexität wollte ich gerecht werden.

Gab es bestimmte Muster, die Sie besonders fasziniert haben?

Ja, zum Beispiel kamen Wassermetaphern häufig vor, mit denen jemand als fließend oder weich charakterisiert wird. Auch wenn der flüssige Zustand des Wassers manchmal abschätzig gemeint ist, zeigt er zugleich die Grenzenlosigkeit des Queerseins auf. Wörter wie „Schmetterling“ oder „Küken“  werden häufig metaphorisch verwendet, um gewisse queere Identitäten zu beschreiben. Diese Metaphern offenbaren kulturelle Nuancen, die in der arabischen Welt tiefen Widerhall finden.

Eine Illustration aus dem Glossar, die Tauben als fliegende Penisse zeigt.

Ich erinnere mich an ein Wort für „Penis“, das kleine Kinder benutzen, „hamām“.

Richtig, „hamām“ oder „Taube“ ist ein Ausdruck für „Penis“, und in der Golfregion bezeichnet man einen Mann, der Männer mag, liebevoll als „Taubenhalter“ (yrabbī hamām). So wird eine zärtliche Bindung betont, nicht nur die körperliche Anziehung. Es ist eine poetische Beschreibung queerer Beziehungen, die über Klischees hinausgeht.

Wie haben Sie diese Begriffe recherchiert?

Das war ein Prozess, der vier Jahre lang dauerte. Zunächst habe ich Begriffe aus Postings von den Followern und Followerinnen von „Takweer“ gesammelt und dann Interviews mit Menschen in der gesamten arabischen Welt geführt, um die Bedeutungen näher zu erläutern. Mit ihrer Hilfe lernte ich Ausdrücke in verschiedenen Kontexten verstehen und konnte sie dann entsprechend erklären.

„Wenn wir Arabisch sprechen, nehmen wir unser kulturelles Erbe an“

Sehen Sie dieses Glossar nun, da Sie queeren arabischen Stimmen sozusagen einen Raum geben konnten, als abgeschlossen an oder ist es Teil eines größeren Projekts?

Es ist nur ein Anfang. Sprache und Identität entwickeln sich ständig weiter, und ich glaube, dieses Glossar wird mit zusätzlichen Beiträgen noch wachsen. Ich hoffe außerdem, dass „Takweer“ als eine Art Schnittstelle zur Erforschung queerer arabischer Identität beitragen kann.

Ich würde gerne andere dazu inspirieren, auf dieser Arbeit aufzubauen, sei es durch neue Einträge im Glossar oder indem sie es als Grundlage für eigene Projekte verwenden. Mit dem Glossar wurde der Grundstein gelegt, aber es gibt noch so viel mehr mit Blick auf all die Geschichten aus unserer Community zu erforschen.

Warum ist es so wichtig für queere Araber und Araberinnen, ihre Identitäten auf Arabisch auszudrücken?

Englisch wirkt distanziert und scheint vielen leichter zu fallen, aber Arabisch ist sehr persönlich; es ist die Sprache der Familie und des Erbes. Wenn wir Arabisch sprechen, nehmen wir unser kulturelles Erbe an.

Manche Begriffe lassen sich einfach nicht ins Englische übersetzen oder verlieren ihre Nuancen, die kulturelle und emotionale Tiefe, die sie im Arabischen besitzen. Ich hoffe, dieses Glossar bietet queeren Arabern  und Araberinnen einen Raum, in dem sie das Gefühl haben, ihre Identitäten authentisch in ihrer eigenen Sprache zu erörtern und auch ein wenig Stolz zu verspüren.