Die tausend Arten am Leben zu bleiben
Ich hätte mit „Devwa Afwontman“ anfangen können, dem ersten Gedichtband meines Freundes und ehemaligen Schülers Litainé Laguerre, der in der Cité Soleil lebt: „Die Pflicht zur Konfrontation“, so lässt sich der kreolische Titel des Buches übersetzen. Die Aussage lautet, dass sich der Einzelne nicht den Verhältnissen beugen darf, wir dürfen uns nicht hinlegen und schlafen, als ob nichts wäre.
In „Devwa Afwontman“ wird scharf geschossen. Staub und Dreck. Patronenhülsen. Tierkadaver. Lebenswille. Sehr wenig Tränen. Wenn ich die Tränen zähle und darüber nachdenke, fällt mir auf, dass das Wasser in diesem Buch insgesamt keine besondere Rolle spielt – vermutlich, weil man über das Wasser in der Soleil ein eigenes Buch schreiben könnte. Es gibt stehende Gewässer, Sammelbecken für Parasiten.
Dann gibt es das Regenwasser, das die Straßen in Kanäle verwandelt, in die Häuser eindringt und manchmal bis auf Kniehöhe anschwillt und alles in Richtung Meer spült, was nicht stark oder intelligent genug ist, um sich an etwas festzuhalten. Und dann wäre da noch das saubere Wasser, das nie fließendes Wasser ist. Um es zu bekommen, braucht man einen Eimer oder eine Plastiktüte. Man benötigt Gourdes (Haitis Währung), um sich eine Tüte voll zu kaufen. Und man braucht die Kraft, das Ganze zu tragen.
„Wer in Soleil aufwächst, ist in seiner Wahrnehmung und seinem Empfinden anders geprägt als ein Bürgersohn, der schon in der Bibliothek zur Welt kommt“
Ich hätte bei meinem Freund Litainé selbst anfangen können, bei dem lerneifrigen Teenager, der er war, als er Mitglied des „Atelier Jeudi Soir“ wurde. Bei seinem Bedürfnis, zu schreiben und ein eigenes Denken zu entwickeln. Bei dem Intellektuellen, zu dem er sich sieben Jahre später entwickelt hatte und mit dem man sich gut über Literaturgeschichte und -theorie unterhalten kann, über Nietzsche und Frankétienne, Lyrik und Epik, Metaphern und Satzstrukturen.
Bei Litainé, der mir in vielerlei Hinsicht ein Rätsel bleibt. Wer in Soleil aufwächst, ist in seiner Wahrnehmung und seinem Empfinden anders geprägt als ein Bürgersohn, der schon in der Bibliothek zur Welt kommt. Ich weiß wenig darüber, wie Litainé zur Liebe steht, zur Lust, zur Not, zur Selbstlosigkeit, was für ihn die Nacht bedeutet. Wie es in uns aussieht, hängt von der Umgebung ab, in der wir aufwachsen, von Prozessen des Pro und Kontra, von Brüchen und Kontinuitäten.
Deshalb müssen Menschen, die aus unterschiedlichen Umgebungen kommen, lernen, sich gegenseitig zuzuhören, damit sie sich miteinander unterhalten können. Litainé und ich werden unsere Freundschaft noch lange wie eine Art Bildungsroman erleben, zwischen Soleil und Delmas, Delmas und Soleil.
Ich hätte anfangen können mit meinem albernen Erstaunen, das rasch in Bewunderung umschlug. Bewunderung für diese Entschlossenheit seinem Leben einen Sinn zu geben und sich viel Wissen anzueignen, obwohl es weder Bibliotheken noch Strom gibt und trotz der Schießereien, der Forderungen, die die Gangs stellen, und des Terrors, der von ihnen ausgeht.
Trotz des Verschwörungsdenkens der religiösen Eiferer, die dir Jesus als persönlichen Erretter verkaufen wollen und die anderen schlechtmachen. Einen Jesus, bösartig wie ein Giftzwerg, der näher am Buch der Könige und dem Fünften Buch Mose im Alten Testament ist, als am Evangelium nach Johannes. Einen Jesus, der weder deine alte Mutter mag – wegen ihrer Voodoo-Praktiken – noch deinen Cousin, der sich wie du mit Tricks und Kniffen durchzuschlagen weiß.
Einen Christus, der selbst noch deinen Halbbruder gegen dich aufbringen will. Übrigens hat hier fast jeder und jede einen Halbbruder oder eine Halbschwester. Denn die Mütter müssen sich immer wieder ein neues Leben aufbauen, einen ersten Vater durch einen zweiten ersetzen, obwohl eigentlich klar ist, dass dieser sich genauso verhalten wird wie jener: Erst wird geprügelt und dann abgehauen.
Ja, damit hätte ich sehr gut anfangen können – mit der Feststellung, wie dumm es von mir war, mich zu wundern. Mit der Erkenntnis, wie dumm die Vorstellung ist, alle „Soléiens“ wären gleich und würden nicht genau wie die Bewohner aller anderen Orte darum kämpfen, sie selbst zu sein. Die Vorstellung, es handle sich um eine Herde, vereint durch das Elend und eine gewisse Widerstandsfähigkeit.
Ich hätte mit dem Eingeständnis beginnen können, dass man manchmal genauso dumm ist wie eine NGO. Nicht, dass NGOs nicht ihr Gutes hätten. Manche sind durchaus nützlich. Andere sind allerdings nichts weiter als ein Refugium für verkrachte Existenzen, die besser daran getan hätten, sich bei den politischen Gruppierungen im eigenen Land zu engagieren und dort etwas zu verändern, statt hierher zu kommen und sich als selbsternannte Retter aufzuspielen.
Wenn man von der Cité Soleil spricht, muss man leider auch die junge Französin erwähnen, die uns sagte, dass sie sich im Rahmen ihrer Tätigkeit „an ihrer Beziehung zu diesem Land abarbeitet“. Ich hätte damit anfangen können, mir selbst vorzuhalten, dass ich auch nicht anders war als diese junge Frau, als ich mich über etwas gewundert habe, das ganz normal ist: über den Anspruch auf Singularität und auf ein selbstgewähltes, autonomes Ich.
Natürlich brauchen die Bewohner der „Cités“, der „Bidonvilles“, der „Armenviertel“ eine Gesundheitsversorgung, Betreuungseinrichtungen und Lehrkräfte. Aber genauso wichtig ist es für sie, als Individuen gesehen zu werden, die sich durchschlagen. Und die mit mehr Schwierigkeiten zu kämpfen haben als Menschen anderswo. In Soleil leben Menschen und keine Statistiken. Wenn Litainé von seinen Freunden oder Bekannten spricht, geht es um Personen und Persönlichkeiten, die versuchen oder der Versuchung erliegen, etwas Einzigartiges zu sein. Das ist für den „Fremden“ ganz sicher das Schwierigste: anzuerkennen, dass jede und jeder auch in Soleil das Recht darauf hat, anders zu sein.
Ich hätte auch mit gesellschaftlichen Prozessen oder den Sozialstrukturen anfangen können. Mit der amerikanischen Besatzung Haitis, die von 1915 bis 1934 dauerte. Mit der Zentralisierung der Macht in Port-au-Prince, der darauffolgenden Verarmung der Bäuerinnen und Bauern. Dann hätte ich zur mörderischen Farce der Duvalier-Jahre überleiten können, zu den Bauern, die man als Claqueure für die Reden des Diktators mit Lastwagen nach Port-au-Prince karrte.
„Ich bin das Banner Haitis, eins und unteilbar. Bravo, Monsieur le Président. Ich habe keine anderen Feinde als die Feinde der Nation.“ Noch einmal Bravo, Monsieur le Président. Danach vergaß man allerdings, die Landbewohnerinnen und Landbewohner in ihre Dörfer und zu ihren Feldern zurückzubringen. So entstand die „Cité Simone“ – wie die Soleil früher hieß, benannt nach der Gattin des Diktators: als Auffangbecken für die Bauern, aus denen die industrielle Entwicklung, die nie stattfand, Arbeiter machen sollte.
Ich hätte auf das Verhältnis zwischen Stadt und Land eingehen können, auf die Allianz aus Handelsbürgertum und Regierung – und darauf, dass man den Bauern direkte und indirekte Steuern aufbürdete und sie ansonsten sich selbst überließ. Darauf, dass sie, als sie in die Stadt abwanderten, ihre Widerstandskraft und ihre Einflussmöglichkeiten verloren.
Ich hätte von dem sprechen können, was die Stadt bot und immer noch bietet: ein Schauspiel, das vom schnellen Reichtum der korrupten Schlipsträger handelt, von legalen Banditen und ganz normalen Banditen. Von der Anziehungskraft der US-amerikanischen Subkultur, die zum Ideal und Vorbild wurde. Von den Gadgets einer verkorksten Modernisierung. Von der Furie des Konsums. Vom Verlust der kulturellen Orientierung.
Die Kinder der dritten Generation, die heute in Soleil leben, kennen weder die Geschichten, die ihre Großeltern sich erzählten, noch die tausend Rhythmen der Volksmusik. Weder die alten Lebensweisheiten der Landbewohner noch die geschichtliche Entwicklung, die sie hierhergebracht hat. Weder den Geruch noch die Tierwelt der Orte, aus denen ihre Großeltern stammen.
Die meisten Jungen sind noch nie über die Grenzen der Cité Soleil hinausgekommen. Viele Jugendliche, die heute hier leben, haben keine Vorstellung von irgendeinem anderen Ort. Sie kennen nichts anderes als diese Stätte der Verbannung und das erinnerungslose Heute. Sie sind gefangen zwischen einer Gegenwart voller Entbehrungen und dem Wunsch, etwas zu besitzen. Dieser Bengel, der ein guter Schüler war und dann Bandenchef wurde, damit er die Turnschuhe tragen konnte, die er im Film gesehen hatte. Diese Wegnehmwut, wie in dem Gedicht von Michaux: „Tonnenweise, hört Ihr, tonnenweise werde ich Euch wegnehmen, was Ihr mir Gramm für Gramm vorenthalten habt“.
„In Soleil ist derjenige, der dich umbringt oder terrorisiert, im Grunde eine andere Ausgabe deiner selbst“
Nur dass dieses „Ihr“ heute weit weg ist, beschützt von Wachhunden, elektronischen Toren und bewaffneten Männern. Die Einzigen, die in Wutreichweite kommen, sind Freunde aus Kindertagen, die Bewohner der Nachbarstadt. Soleil ist ein Konglomerat aus kleinen Städten und nicht ein einförmiges großes Ganzes. In Soleil kann dir jede und jeder erzählen, wie dieser oder jener zum Bandenchef wurde, an welchem Tag und in welchem Jahr. Wie er sich Stück für Stück hochgearbeitet hat. Wer seine ersten Opfer waren und welche Ehrentitel er sich erarbeitet hat.
In Soleil ist derjenige, der dich umbringt oder terrorisiert, im Grunde eine andere Ausgabe deiner selbst. Jemand, mit dem du vielleicht schon einmal Fußball gespielt hast. Mit dem du Streiche ausgeheckt hast, als ihr noch kleine Jungs wart. In Soleil sind die Monster ein Teil von dir. Und du musst dich ständig selbst überwachen, damit du nicht ganz zum Monster wirst.
Du zwingst dich, ein Stück Menschlichkeit zu finden hinter den Drohungen der religiösen Spinner, die dir die Hölle in Aussicht stellen. Du zwingst dich, einen Sinn in dem Unterricht zu finden, den schlecht ausgebildete Lehrer dir in überfüllten Schulen erteilen. Du meldest dich bei einem Fußballclub an, bei einem Sportverein. Du versuchst, einen kleinen Gesprächskreis auf die Beine zu stellen.
Du versuchst, ein „Wir“ zu schaffen. Du hast alle gegen dich. Den Pfarrer. Die Gangs. Deine Eltern. Deine Eltern – das ist im Grunde nur deine Mutter, die jedes Mal, wenn du vor die Tür trittst, Angst hat und dir rät, woanders hinzuziehen, diesen Ort zu verlassen, von dem sie selbst nie wegkommen wird. Und die nicht versteht, dass du diesen Ort genauso liebst wie sie. Die nicht versteht, dass du hier genau wie sie die schlimmsten Dinge, aber auch glückliche Zeiten erlebt hast.
„Unter welchem Gesichtspunkt wollen Sie über das Leben in Soleil sprechen?“, haben Sie mich gefragt. Die einzige Antwort, die ich auf diese Frage habe, ist dieser Artikel hier, in dem ich es nicht geschafft habe, mich für den einen Gesichtspunkt zu entscheiden.
Ein Fußballspiel zwischen zwei Städten in der Stadt. Es wird nicht mit Waffen geschossen. Man hat Vertrauen zum Schiedsrichter, die Gangs lassen ihre Waffen für die Dauer eines fairen Kampfes ruhen. Fair? Angeblich hat die Voodoo-Priesterin, deren Sohn im Team X spielt, das gemacht, was man mithilfe der Geister so macht, damit der eigene Sohn ein Tor schießt und seine Mannschaft gewinnt. In der Halbzeitpause geht eine Elternabordnung von Team Z zu der Voodoo-Mambo hin und sagt ihr: Lass die Jungs in Frieden kicken und lass die Götter aus dem Spiel.
Treffen im „Atelier“ wie üblich, am Donnerstagabend. Litainés Mutter am Telefon: Komm nicht nach Hause, hier wird geschossen. Die Nachbarin hat zwei Kugeln abgekriegt, als sie friedlich bei sich daheim saß. Ein kultureller Verein fragt an, Monsieur Trouillot, können Sie uns ein paar Bücher schenken und einen Vortrag bei uns halten?
Korrupte Politiker, Gangs, die sich gegenseitig umbringen, junge Mädchen, begehrte und verbotene Ware. Die Höllendrohung der Frauenhasser, die sich hinter Gott verstecken, und das reale Inferno der Lebensverhältnisse. Die Lebensmittelverkäuferin, von der alle wissen, dass ihre Ware vergammelt ist. Die Domino-Partien. Die Glücksspiele. Das Gangmitglied, das einen Jungen anhält und zu ihm sagt: Du gehst oft aus dem Haus, wo willst du hin mit deinen ganzen Büchern?
Das bisschen, das von der echten Volkskultur noch übrig war, verwässert durch das, was gerade angesagt ist. Die Wortschöpfungen, die nur die Bewohner in dieser einen Mini-Stadt in der Stadt verstehen. Die Rivalitäten zwischen dem einen Sprengel in der Cité Soleil und dem anderen.
Die Angst, der Humor, die Selbstironie. Die tausend Arten, am Leben zu bleiben, sich etwas zu erobern, das wenigstens so aussieht wie ein Einkommen. Kleine Jobs, kleine Deals, eine kleine Tierzucht. Die Generationenschocks. Der Religionskrieg der Evangelikalen gegen Voodoo und die Volkskultur. Der Glaube an die okkulten Kräfte der Banditen, denen die Projektile der Polizei nichts anhaben können.
Angehende Marxisten und Bourdieu-Anhänger. Die erlaubten und verbotenen Strategien des individuellen Fortkommens. Die Versuche, positive Energien zu bündeln. Die Gleichzeitigkeit von so viel Unterschiedlichem, so viel Gegensätzlichem, wozu auch die Hassliebe zu diesem Ort gehört. Denn immerhin ist es der, an dem du sterben wirst und den du deswegen hasst. Und es ist jener, an dem du lebst und den du deswegen liebst.
Es gibt nicht den einen Gesichtspunkt, unter dem man über 300.000 Menschen sprechen kann, die einen Ort bewohnen, der in tausend kleinere aufgeteilt ist. Was man mit Bestimmtheit sagen kann, ist: Hier leben 300.000 Lebensformen mit dem Bewusstsein – oder ohne es –, dass es eine „Pflicht zur Konfrontation“ gibt, die Pflicht, sich den Verhältnissen nicht zu beugen.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld