„Die ersten Slums sind in Europa entstanden“
Das Interview führte Morgane Llanque
Frau Kuffer, der Begriff „Slum“ wurde im 19. Jahrhundert in London geprägt. Der Osten der Stadt war voller Elendsviertel, die die Oberschicht der Metropole sogar im Rahmen eines Slumtourismus samt Führungen besuchte. Heute tun wir in Europa gerne so, als gäbe es bei uns keine Slums mehr. Warum?
In der Tat sind die ersten Slums im Europa der Industrialisierung entstanden; als Folge des schnellen Bevölkerungswachstums litten die Menschen in vielen Teilen der Städte unter schlimmster Armut und furchtbaren hygienischen Bedingungen. Zwar hat sich die Anzahl der Elendsviertel in Europa dank des jahrhundertelangen Kampfes für mehr politische und soziale Gerechtigkeit und weniger Ungleichheit deutlich verringert. Aber es gibt sie nach wie vor. Nach Schätzungen der UN leben über fünfzig Millionen Menschen in Europa in solchen Siedlungen. In vielen Fällen sind sie nur weniger sichtbar als früher.
„Nach Schätzungen der UN leben über fünfzig Millionen Menschen in Europa“
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
In einem Bericht für die Europäische Kommission habe ich 2023 verschiedene Arten von informellen Siedlungen oder Slums in der EU identifiziert: Dazu gehören etwa die riesigen Flüchtlingslager. Berühmtestes Beispiel war lange der sogenannte »Dschungel von Calais«, eine Zeltstadt, in der 2016 über 8.000 Menschen lebten. Als Nächstes erregte Moria Aufsehen, das Flüchtlingslager auf Lesbos mit zeitweise 12.000 Bewohnern und Bewohnerinnen.
Derartige Siedlungen sind eigentlich als temporäre Lösung gedacht. Aber weil die Situation für viele so ausweglos ist, werden sie zu langfristigen Aufenthaltsorten, in denen schreckliche Zustände herrschen. Ein anderes Beispiel sind die informellen Siedlungen von Sinti und Roma und anderen marginalisierten Gruppen in West- und Osteuropa. In Rumänien ließ der Bürgermeister von Baia Mare 2013 den dortigen Slum, anstatt ihn in die Stadt zu integrieren, durch eine Mauer abschotten.
Oft geben Mitgliedsstaaten der EU bei entsprechenden Erhebungen nicht mal an, dass sie ein Problem mit Slums oder informellen Siedlungen haben. Die zuständigen Stellen gucken lieber weg, als etwas zu unternehmen oder gar die Ursachen zu bekämpfen.
Also sind informelle Siedlungen auch in Westeuropa ein Problem.
Ja, berühmt-berüchtigt ist etwa Cañada Real in Madrid, das mit rund 8.000 Menschen als die größte informelle Siedlung Westeuropas gilt. Dort leben nicht nur, aber auch viele Roma. Sie ist geprägt von gewalttätigen Drogenkartellen. Natürlich geht es hier um kleinere Ausmaße als zum Beispiel in Asien oder Afrika mit Siedlungen von mehreren Hunderttausend Einwohnern. Aber es sind letztlich die gleichen Strukturen der Ausgrenzung, und auch hier herrscht extreme Armut.
Die Menschen leben in improvisierten, unwürdigen und gefährlichen Unterkünften. Camps und informelle Siedlungen von Geflüchteten und Obdachlosen werden regelmäßig geräumt. Die Behörden vertreiben die Einwohner über Nacht, ohne ihnen eine Alternative zu bieten. Ein solches Vorgehen wurde zuletzt bei den Olympischen Spielen in Paris im Sommer 2024 von Menschenrechtsorganisationen dokumentiert. Man tut so, als gäbe es da kein Problem.
„Auch in Europa entstehen Slums durch Ausgrenzung und extreme Armut“
Was sind neben Migration, Flucht und der Ausgrenzung marginalisierter Ethnien weitere Gründe für die Slumbildung in Europa?
In Skandinavien etwa gibt es Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus, die mittlerweile so heruntergekommen sind, dass es überall schimmelt, Häuser zerfallen und das Leben dort nicht mehr sicher ist. Die Wirtschaftskrise und überteuerte Mieten führen zu immer mehr „deprivation of housing“ in Europa, wie wir in der Urbanistik sagen, also zu Lebensbedingungen, die immer prekärer und menschenunwürdiger sind. Viele Menschen in Not behelfen sich mit Alternativen, die nicht für ein langfristiges Wohnen gedacht sind, Camper, Schuppen, Zelte. Die Übergänge zwischen dem, was wir traditionell unter „normalem“ Wohnraum verstehen, und dem, was wir als Slums im urbanen Raum ansehen, sind oft fließend.
Sie sind Expertin für die Visualisierung von Geodaten und das Kartieren von informellen Siedlungen. Wie können Karten dabei helfen, die Lebensumstände an solchen Orten zu verbessern?
Ein Beispiel ist ein Slum in Kenia, wo wir durch eine Auswertung der Daten erkennen konnten, dass riesige Mülldeponien zum Stau von Wasser führten, wodurch es zu Überflutungen kam. Als Folge der Visualisierung wurde der Abfall dort tatsächlich weggeräumt. Weltweit ist das Kartieren von informellen Siedlungen eine große Herausforderung, weil sie aufgrund ihrer Illegalität nicht richtig erfasst werden, die Bewohner regelmäßig vertrieben werden und so weiter.
Auch in Europa kümmert sich kaum jemand um diese Daten, obwohl das elfte Ziel für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen besagt, dass wir für ein würdiges und sicheres Wohnen für alle sorgen müssen. Das schließt die Bezahlbarkeit übrigens mit ein. Ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist die Kartierung. Sie zeigt uns, was in einer informellen Siedlung gebraucht wird, wie sie sich entwickelt und ob sie zum Beispiel durch die immer häufigeren und katastrophaleren Auswirkungen des Klimawandels bedroht ist. Deshalb habe ich ein globales Netzwerk namens IDEAMAPS mitgegründet. Dort tragen wir in enger Zusammenarbeit mit den Menschen vor Ort und wissenschaftlichen Instituten Daten über entsprechende Siedlungen zusammen und visualisieren sie dann.
Wie stellt man sicher, dass bei der Kartierung von Slums durch Satellitendaten nicht die Privatsphäre der Bevölkerung verletzt wird?
Bei IDEAMAPS verpixeln wir alles ab 100 mal 100 Metern. So ist garantiert, dass wir zwar wichtige Daten erheben können, aber niemanden bloßstellen. Die Visualisierung an und für sich ist aber von zentraler Bedeutung. Denn ich denke, dass gerade in Europa oft ein Verständnis dafür fehlt, wie gefährlich viele Menschen in urbanen Räumen leben. Weltweit muss man die Lebensbedingungen dort besser untersuchen und für das Thema sensibilisieren, statt es unter den Teppich zu kehren.