Musik | Südafrika

„Rassismus geht nicht weg, wenn man schweigt“

Die klassische Musik ist eine Domäne weißer Männer. Geht es nach Opernsängerin Golda Schultz, dann ändert sich das bald. Ein Gespräch über Vorurteile auf und hinter der Bühne
Ein Porträtbild der Opernsängerin Golda Schultz. Sie trägt ein blau/grünes Kimonoähnliches Oberteil mit Blumenmuster und eine große auffällige Halskette. Die rechte Hand liegt auf ihrem Kopf mit der linken Hand spielt sie mit ihren Haaren. Sie blickt freundlich in die Kamera.

Die Opernsängerin Golda Schultz

Frau Schultz, Sie sind Opernsängerin und als Sopranistin weltweit erfolgreich. Viele Opern sind ja recht alt, mit nach heutigem Stand teilweise problematischen Texten. Stört es Sie, diese Stücke dennoch immer wieder aufzuführen?

Eigentlich nicht. Für mich ist „Le nozze di Figaro“ die perfekte Oper, obwohl sie schwierige Themen behandelt. Es geht um ältere Männer, die hinter Frauen her sind und denken, sie hätten die Macht über weibliche Sexualität. Und um Frauen, die sich in einer Männerwelt behaupten müssen.

Diese Geschichten sind ja leider immer noch sehr aktuell. Und aus alledem wurde etwas so Schönes geschaffen. Trotzdem brauchen wir natürlich auch neue Geschichten: mehr weibliche Stimmen, mehr asiatische, afrikanische, lateinamerikanische. Unsere Geschichten wurden so lange nur von anderen geschrieben. Wir sollten sie endlich selbst auf den großen Bühnen erzählen können.

„Über Politik wird in der klassischen Musik zu wenig gesprochen“

Gibt es in Ihrer Berufswelt Themen, über die nicht gesprochen wird?

Ja, Politik! Wenn ich mir große Popdiven anschaue, Beyoncé, Lizzo oder Cardi B, dann ist es Teil deren Marke, besonders meinungsstark und politisch zu sein. Aber in der klassischen Musik werden wir als Menschen mit eigenen Meinungen ganz unwichtig gemacht.

Über mich heißt es zum Beispiel: „die schöne Stimme der Golda Schultz“. Ich soll eine schöne Musikmaschine sein, die nur über die heilige Kunst redet. Wenn ich auf Twitter etwas über Feminismus schreibe, folgt sofort Kritik. Das finde ich sehr merkwürdig.

Im Mittelalter gab es die Figur des Narren, der sogar den König kritisieren durfte. Und früher war es auch die Rolle von Künstlerinnen und Künstlern, alles, was tabu ist, anzusprechen. Auf Englisch sagt man „speaking truth to power“, also der Macht die Wahrheit sagen. Irgendwie ist uns das abhandengekommen. 

Von wem werden Sie denn kritisiert, wenn Sie etwas Politisches in den Sozialen Medien schreiben? 

Das kommt von allen Seiten. Mein Beruf ist leider sehr abhängig von der Meinung des Publikums. Wenn es dich als Sängerin nicht mehr mag, dann wirst du nicht mehr engagiert. In den letzten Jahren ist dieses Phänomen noch schlimmer geworden, „Cancel Culture“ nennt man das: Zuerst wirst du auf ein Podest gestellt, aber sobald du einen winzigen Fehler machst, bist du unten durch. 

Ist Ihnen so etwas schon einmal passiert?

Zumindest ein bisschen. Ich hatte im September 2020 einen großen Auftritt bei der Last Night of the Proms der BBC. Das ist eine sehr traditionsreiche Konzertreihe in der Royal Albert Hall in London. Das Publikum ist es gewohnt, dass jedes Jahr bestimmte Lieder gespielt werden, darunter „Rule, Britannia!“.

Die Dirigentin Dalia Stasevska und ich wollten bei der Programmauswahl in diesen besonderen Zeiten ein bisschen Trost spenden. Wir sitzen ja alle allein zu Hause, da wollten wir die Botschaft aussenden, dass niemand allein ist. Selbst das Konzert fand in einem leeren Saal statt und wurde live übertragen. Wir dachten, dass „Rule, Britannia!“ nicht das passende Lied sei, um Zusammenhalt deutlich zu machen.

Offenbar wurde das anders aufgefasst. Das Publikum ist komplett ausgeflippt, weil ich das Lied nicht gesungen habe! Einige Politiker haben uns ganz offen kritisiert, sie sagten: „Diese Ausländer nehmen uns unsere britische Kultur weg!“ Und viele Leute aus dem Publikum beschimpften mich: „Wenn du unsere Kultur so scheiße findest, dann sing halt nicht hier in England!“ Solche Sachen.

Das hat wirklich wehgetan. Wir wollten nur so gut wie möglich unseren Job machen. Aber niemand hat uns zugehört. Und genau das meine ich mit „Cancel Culture“: Weil die Reaktionen so extrem sind, sind viele lieber still. Leider gehen Probleme aber nicht weg, wenn man schweigt. Genauso ist es ja mit dem Rassismus.

Können Sie das genauer erklären?

Seit einer Ewigkeit tun viele so, als gäbe es keinen Rassismus. Mich erinnert das an das Spiel „Tabu“: Man erklärt seinem Team ein Wort, aber darf dabei weder das Wort selbst noch eine Reihe von ähnlichen Worten sagen.

Stell dir vor, du hast das Wort „Rassismus“ gezogen und sollst es erklären. Aber du darfst nicht „Rassismus“ sagen, nicht „Diskriminierung“ und auch nicht „Sklaverei“. Und weil es so vieles gibt, worüber wir nicht reden dürfen, wird es so kompliziert, bis zum Rassismus vorzudringen.

Ist es denn in der klassischen Musikwelt tabu, über Rassismus zu sprechen?

Ja. Es ist schwer, ihn zu benennen, weil Rassismus meistens nicht offen auftritt, sondern unter dem Deckmantel des Exotismus: ein asiatisches Gesicht wird durch ein anderes asiatisches Gesicht ersetzt. Oder ich höre Sätze wie: „Warum sollten wir Golda Schultz einstellen, wenn wir mit Pretty Yende doch schon eine südafrikanische Sängerin haben?“

Unsere Hautfarbe und unsere Herkunft werden zum bestimmenden Faktor unserer Einzigartigkeit gemacht. Das ist rassistisch. Ich erinnere mich an einen Lehrer, damals am Konservatorium, der sagte: „Wenn Sie einen afrikanisch klingenden Namen haben, sollten Sie ihn ändern.“ Damals hat mich das empört, aber heute muss ich traurigerweise sagen, dass er recht hatte.

„Wenn jemand deinen Namen nicht auf Anhieb aussprechen kann, ist es weniger wahrscheinlich, dass du eingestellt wirst“

Wenn jemand deinen Namen nicht auf Anhieb aussprechen kann, ist es weniger wahrscheinlich, dass du eingestellt wirst. Als Südafrikanerin, die in Bayern wohnt, erlebe ich jeden Tag Rassismus und Xenophobie. Aber es ist auch schwer, darüber zu sprechen. Und es gibt ja auch noch so viele sexistische Klischees, wie jenes, dass Opernsängerinnen immer pflegeintensive Diven sind. 

Was meinen Sie mit „pflegeintensiv“?

Ich zitiere immer gerne Beyoncé: „Wenn eine Diva für dich die weibliche Version eines Hustlers ist, dann bin ich eine Diva: Ich arbeite hart für mein Geld, ich bin gut vorbereitet, ich gebe mein Bestes.“ Leider denken die meisten Menschen aber bei „Diva“ an jemanden, der anspruchsvoll, schwierig, kompliziert und hysterisch ist, eben pflegeintensiv.

Es gibt so viele Witze über „die hysterische Sopranistin“. Manchmal, wenn meine männlichen Kollegen so einen Witz erzählen, schauen sie erschrocken zu mir und beteuern: „Dich meinen wir natürlich nicht!“ Aber wenn man so etwas nur oft genug hört, dann ist die Botschaft ganz klar: Verlange keinen Respekt und keine Gleichberechtigung. Beklag dich nicht. Wenn du das durchhältst, dann bist du ein „gutes“ Mädchen.

Aber wenn du dich beschwerst, dann steckst du ganz schnell in der Schublade der Diva. Das macht es so schwer anzusprechen, wenn tatsächlich etwas richtig schiefläuft. Wenn man zum Beispiel belästigt wird. Oder ein Dirigent es auf einen abgesehen hat. 

Was muss passieren, damit sich das verändert? 

Wir müssen lernen, ehrlich miteinander zu sprechen. Offen anerkennen, dass Sexismus und Rassismus existieren. Und diejenigen, die in der Klassikwelt die Macht haben, müssen realisieren, dass ihre Macht unverhältnismäßig groß ist. Stellen Sie es sich so vor: Wir Sängerinnen und Sänger sind wie Fische in einem Becken, die darauf warten, geangelt zu werden.

Die Intendanten und Casting-Agenten der großen Opernhäuser sind die Fischer. Das Problem ist nur, dass diese Fischer aus einer homogenen Gruppe kommen. Ihre Ideen von Exzellenz sind durch ihren eigenen Hintergrund geprägt – und das sind nun mal größtenteils weiße Männer.

„Die Intendanten und Casting-Agenten wählen diejenigen Leute an die Spitze, die ihnen ähnlich sind“

Anstatt dass sie tief in dieses Becken voller Fische eintauchen, um nach den talentiertesten zu suchen, warten sie einfach, welcher Fisch am höchsten springt. Das System ist darauf ausgelegt, dass diejenigen an der Spitze Leute wählen, die ihnen ähnlich sind. Menschen aus Asien, Lateinamerika oder Afrika werden so oft ausgeschlossen. Darum muss das ganze System revolutioniert werden.

Derzeit finden ja aufgrund der Corona-Pandemie Opern und Konzerte, wenn überhaupt, digital statt. Wie geht es 
Ihnen damit?


Ich habe endlich meine ganzen Noten sortiert (lacht)! Corona zwingt alle dazu abzuwarten, was die Zukunft bringt. Im letzten Jahr war ich so viel unterwegs, dass ich nur drei Monate daheim sein konnte.

Jetzt wäre ich eigentlich in den USA, aber das Engagement wurde abgesagt. Wenn ich ehrlich bin, dann bin ich sogar ein bisschen froh darüber. Obwohl das auch schon wieder eine Art Tabu ist …

Sie meinen, über die belastenden Aspekte Ihres Berufes zu sprechen?

Ab einem gewissen Niveau ist es in meinem Beruf verpönt, über Schwieriges zu reden. Weil es ein Privileg ist, diese Arbeit zu machen: die Welt zu sehen, auf großen Bühnen zu singen. Und das stimmt natürlich auch. Ich bin dankbar, aber kann ja trotzdem Heimweh haben.

Ich kann in Tokio singen und gleichzeitig denken, wie gerne ich bei den Menschen wäre, die mir wirklich wichtig sind. Stattdessen sitze ich in einem fremden Land, und die einzige Person, mit der ich sprechen kann, ist die Dolmetscherin (lacht).

Das ist das Menschliche an der Kunst: Sie ist anstrengend, manchmal peinlich und erschöpfend. Aber dabei kommt unglaublich schöne Musik heraus. Kunst ist so wichtig, weil sie uns die ganze schöne Schrecklichkeit des Menschseins vorführt. Damit wir lachen, weinen und uns wohlfühlen können.

Das Interview führte Gundula Haage