Niemals barfuß

Stammesoberhäupter in Ghana
Foto: Getty Images
„Sing nicht im Badezimmer“, rief meine Mutter. Singen beim Baden ist ein Tabu. Solche Aussagen haben mich immer verwirrt. Damals im Bad hörte ich das Wort „Tabu“ zum ersten Mal. Warum sollte ich unter der Dusche nicht singen? Ich war neugierig. Ein paar Jahre zuvor, so erzählte man mir, hatte ein Häuptling gerade ein Bad genommen, als er auf einmal von irgendwoher sein Lieblingslied vernahm. Vor Freude stimmte er ein, erstickte am Seifenschaum und starb. Deshalb also das Tabu!
Es gibt viele Stämme in Ghana und Tausende von Anführern, Chiefs. Ihr Verhältnis zum Staat ist kompliziert. Ghanas Verfassung erkennt ihre Autorität an, und die Häuptlinge arbeiten mit dem Staat zusammen, auch wenn ihre Rolle permanent neu definiert wird und jeder einzelne unterschiedliche Befugnisse hat.
Als Kind schlich ich mich, wenn ein Fest gefeiert wurde, heimlich aus dem Haus und schaute ihnen zu, wie sie in ihrer Tracht in ihren Sänften sitzend tanzten. Ihre Rolle hat mich schon immer fasziniert. In meiner Forschung kann ich heute dem Thema Tabu wissenschaftlich auf den Grund gehen. Jede Gesellschaft hat ihre Praktiken, mit denen sie ihre Mitglieder so sozialisiert, dass sie sich im Einklang mit den kulturellen Normen verhalten. In meiner Kultur glaubt man, dass das Missachten von Tabus der Gesellschaft oder dem Einzelnen Unheil bringt. Tabus sind allgegenwärtig. Besonders wichtig sind sie, wenn es um die Regierungsführung in der Gemeinschaft geht. Wer Tabus nicht beachtet, maßt sich Autorität an.
Vor einiger Zeit hatte ich Gelegenheit, mit Chief Osabarima Kwesi Atta II. zu sprechen. Er ist der „Omanhene“ – das traditionelle Oberhaupt des Volks der Oguaa, das im Süden Ghanas lebt. Ich fragte ihn, welche Bedeutung Tabus für seine Stellung als „Omanhene“ haben. Als er erstmals Häuptling wurde, erzählte er, durchlief er eine Vielzahl von Ritualen. „Es ging darum, mich zu reinigen, denn ich würde fortan auf einem heiligen und jahrhundertealten Schemel sitzen“, berichtete er. Der Schemel sei einem Thron gleichzusetzen. „Ich vollzog ein Ritual, um eine Art heiligen Status zu erreichen. Meinen ursprünglichen Geburtsnamen legte ich damit ab.“ Seither ist es ein Tabu, seinen früheren Namen auszusprechen. Dahinter steht der Gedanke, dass das Oberhaupt nicht den gleichen Namen tragen soll wie andere Mitglieder der Gemeinschaft.
„Mir wurde klar, dass es keine leichte Aufgabe ist, Häuptling zu sein“
Ein Tabu, das vom Anführer strengstens zu beachten ist, hat mit der Menstruation zu tun. „Eine menstruierende Frau darf sich mir nicht nähern.“ In manchen Gegenden wird angenommen, dass Menstruationsblut die spirituellen Kräfte des Häuptlings aufhebt. Weitere Tabus schreiben vor: Der Häuptling darf weder barfuß gehen noch mit seinem Gesäß den Boden berühren, weder nicht traditionelle Instrumente besitzen noch in der Öffentlichkeit zu moderner Musik tanzen. Einen Anführer zu schlagen, ist ebenfalls tabu.
„In meiner Welt stehen hinter den Tabus übernatürliche Kräfte“, erläutert Osabarima Kwesi Atta II. „Wenn ich diese Verbote verletze, muss ich mit Bestrafungen rechnen, die sogar auf das von mir beherrschte Volk ausgeweitet werden können.“ In Ghana sind Tabus für den Häuptling ein Mittel, um seine Autorität zu etablieren und auch um seiner moralischen Überlegenheit und seiner Verbindung zu den Ahnen Geltung zu verschaffen.
Tabus sind unmittelbar mit den Regierungsbefugnissen verknüpft und erinnern ständig an die herausgehobene Stellung des Oberhaupts. Sie – und der Häuptling – verkörpern die soziale Ordnung. Häuptlinge gelten als Hüter der ghanaischen Kulturnormen. Dies schließt auch Tabus mit ein, die dazu beitragen, die Institution gegen staatliche Einmischung abzuschirmen. Durch mein Gespräch mit Osabarima Kwesi Atta II. wurde mir klar, dass es keine leichte Aufgabe ist, Häuptling zu sein: Er ist eine wichtige und mächtige politische Figur für sein Volk und zugleich auch ein lebendes, atmendes Tabu.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld