Tanz | Spanien

Mit Behinderung tanzen

Warum haben viele Menschen Berührungsängste vor Körpern, die anders als ihre eigenen sind?
Ein Mann sitzt in einem Rollstuhl. Über ihm scheint eine Frau in Liegestütz Position zu schweben. Der Mann im Rollstuhl stützt die Frau mit der rechten Hand, mit der linken Hand hält er das Rad des Rollstuhls fest. Die Frau stützt sich mit der rechten Hand auf den Oberschenkel des Mannes.

Ein tanzendes Paar der inklusiven Tanzcompany Liant la Troca aus Barcelona

Alles begann in einem Nachbarschaftszentrum in Barcelona. Ich war erst kurz zuvor hergezogen – und ich hatte kein Geld. Erst recht nicht für Tanzstunden in den Studios, die Google unter den Stichworten „Unterricht Zeitgenössischer Tanz Barcelona“ ausspuckte. Aber im Nachbarschaftszentrum meines Viertels, dem „Cocheras de Sants“, lockten Dutzende von Kursen.

Tanzunterricht für nur sechzig Euro im Trimester, und sogar noch weniger, wenn man arbeitslos ist (was ich damals war). Etwas, das sich „integrativer Tanz“ nennt, weckte meine Neugierde: „Ein künstlerischer und kreativer Raum, wo durch Tanz und Improvisation integrative Verbindungen zwischen Personen mit gemischten Fähigkeiten geschaffen werden.“

Der Satz „Die Diversität wird als Chance und nicht als Grenze betrachtet“ bewirkte schließlich, dass ich ins kalte Wasser sprang. Ich wollte tanzen lernen und ich wollte darüber schreiben, was Normen beim Tanzen bedeuten – und was passiert, wenn man von ihnen abweicht.

Eine Woche später finde ich mich in einem Kreis wieder. Menschen mit Krücken neben Menschen in Rollstühlen neben Menschen mit Schienen an den Beinen. Niemand von ihnen scheint in der Lage zu sein, eine Pirouette zu drehen. Nicht einmal halbwegs in Form sind sie, denke ich. Nur der Lehrer hat einen Körperbau, wie es sich für einen Tänzer gehört: markante Quadrizepsmuskeln, superbreite Brust, schmale Hüften, definierte Arme, flacher Bauch.

Mein Vorurteil flüstert mir zu: „Da bist du also zum Tanzunterricht gekommen, um fliegen zu lernen, und deine Mittänzer können noch nicht einmal problemlos gehen!“ Außer dem Lehrer bin ich die Einzige, die optisch eine Tänzerin sein könnte. Idiotischerweise hebt das meine Stimmung, aber es erschreckt mich auch: Ich habe seit Jahren nicht getanzt. Werden mich alle hier für etwas halten, das ich nicht bin, nur, weil ich den normgerechtesten Körper habe? Auch ich kann keine Pirouetten drehen.

„Auch ich kann keine Pirouetten drehen“

Wir alle sagen unseren Namen und warum wir hier sind. Ich sage nicht die Wahrheit – oder zumindest nicht die ganze Wahrheit. Ich sage: „Ich bin hier, weil ich den Tanz innerhalb des semantischen Feldes der Diversität und die Vermischung von Fähigkeiten kennenlernen möchte.“ Was ich nicht sage, ist, dass ich hier bin, weil ich mir keine professionellen Stunden leisten kann.

Eine Mittänzerin ist mit dem Vorstellen dran. Später erzählt sie mir, dass sie seit ihrer Geburt eine Zerebralparese hat. Sie stützt sich auf einen Rollator, ist schlank und muskulös. Ihr Anblick überrascht mich, weil ich vorher nie die Gelegenheit hatte, eine Person mit einem Körper, der so anders ist, so lange zu betrachten: Die Finger sind konvex und konkav gebogen (später werde ich lernen, dass dies Muskelhypertonie heißt), die Knie nach innen gedreht, der Oberkörper leicht nach vorn geneigt.

Als ich sie ansehe, werde ich neugierig. Noch nie hatte ich eine Kollegin, die körperlich nicht der Norm entsprochen hätte. Aber als Desirée Cascales, Tänzerin des Ensembles „Liant la Troca“ und von allen Desi genannt, zu sprechen beginnt, fällt mein analytisches Vermögen in sich zusammen: Ich bin gerührt und muss die Tränen zurückhalten.

Desis gutturale Aussprache (die für jemanden, der nicht daran gewöhnt ist, kaum verständlich ist) und das Quietschen ihres Rollators sind ein Faustschlag gegen das ganze behindertenfeindliche System. Ein System, das unsere binär denkende Gesellschaft in Fähige und Unfähige einteilt.

„Für viele war es das erste Mal, dass sie Rollstühle aus der Nähe sahen“

„Ableistisch“ – behindertenfeindlich – ist ein Wort, dass ich nach der ersten Begegnung mit Desi lerne; als ich beginne, aus dem Kampf meiner nicht normativen Mittänzer meinen eigenen Kampf zu machen. Aber zuerst spreche ich mit Desi:

Desi: Menschen mit Behinderung haben keine Möglichkeit, sich professionell im Tanz ausbilden zu lassen. Der einzige Weg in diese Welt ist der integrative Tanz. Dein ganzes Leben lang musst du dich immer an die Gesellschaft anpassen, weil du immer die „Andere“ bist. Aber irgendwann habe ich verstanden, dass selbst die professionellen Tänzerinnen und Tänzer nicht alles können. Viele können zum Beispiel nicht improvisieren.

Ich: Wie meinst du das?

Desi: Vor ein paar Jahren hat unser integratives Tanzensemble „Liant la Troca“ eine Woche lang mit Tänzern des Instituts für Tanz und Darstellende Künste in Katalonien gearbeitet. Am ersten Tag forderte unser Leiter Jordi Cortés uns alle dazu auf, zu improvisieren. Alle „normalen« Schüler vom Institut sind einfach stehen geblieben. Sie waren es so gewöhnt, dass jemand ihnen vorschreibt, was zu tun ist. Sie improvisieren normalerweise nicht.

Fünf Minuten lang blieben sie reglos. Wir anderen tanzten. So, wie es aus unserer Seele kam. Sie schauten uns zu und dachten vielleicht: „Das kann ich nicht.“ Für viele war es das erste Mal, dass sie Rollstühle aus der Nähe sahen.

Ich: Sie kriegten die Krise.

Desi: Sie hatten Berührungsängste wegen dieser Fremdheit. Später musste ich ihnen sehr klar sagen, was sie mit uns machen können: „Nimm mich hoch“, „du kannst dich hier abstützen“, „du kannst den Rollstuhl auseinandernehmen, damit spielen“. Eine Woche lang haben wir so miteinander getanzt. Da wurden ganz schön viele Tabus zerstört.

Ich: Welche Tabus?

Desi: Fangen wir mit den einfachsten an: dass eine Person mit Behinderung weder schwach noch verletzlich, noch krank ist. Dass man sie anfassen kann und dass sie dabei nicht kaputtgeht. Und hören wir mit dem politischsten auf: dass eine Person mit Behinderung nicht nur auf großen Bühnen tanzen kann. Sie kann sogar einen Tänzer ohne Behinderung an die Wand tanzen.

Was Desi und mich verbindet, möchte ich weder „integrativen“ noch „inklusiven Tanz“ nennen. Ich nenne es „Tanz für prekäre Menschen“. Das uns beherrschende ableistische System will einen Unterschied zwischen Desi und mir machen, weil sie eine Behinderung hat und ich nicht. Aber wir sind vereint im Kampf dagegen: Das System des Tanzes stößt uns beide aus, weil weder sie noch ich auf körperlicher oder materieller Ebene seinen Geboten entsprechen. In den Tanzstunden für Prekäre kommen Ausgestoßene zusammen.

In ihrem Lied „El viejo de arriba“ singt die argentinische Band Bersuit Vergarabat von einer „befreiten Welt“, in der „ein Mambo der Marginalisierten“ getanzt wird. Unsere Marginalität anzuerkennen und nicht zu versuchen, sie zu normalisieren (denn das würde bedeuten, an den Regeln des Spiels, das uns unterdrückt, teilhaben zu wollen) – das ist es, was Desi, mich und so viele andere prekäre Tänzer befreit.

Aus dem Spanischen von Sarah van der Heusen