Du sollst nicht lügen

Die Autorin Ayelet Gundar-Goshen hinterfragt das Tabu der Lüge
Foto: Philippe Matsas
Was wäre gewitzter, als sich als Tabu zu verkleiden? Sich einen Heiligenschein „strikter Regeln“ zuzulegen, tatsächlich jedoch hinter der drohenden Rhetorik über das „absolut Verbotene“, verlockend mit den Augen zu klimpern?
„Von der Lüge halte dich fern“, sagt die Bibel. „Lügen haben kurze Beine“, besagt ein Sprichwort. Doch in ihrer Entschiedenheit signalisieren diese Sprüche den scharfäugigen Lesenden, wie groß der Verhandlungsspielraum bei Lügen und deren Zulässigkeit ist. Wäre die Lüge nämlich ein absolutes Tabu in der Gesellschaft, wie Eltern es ihren Kindern gerne aufbinden, wäre es doch schwer zu erklären, dass das Tabu der Lüge häufiger überschritten wird als jeder gängige Zebrastreifen.
Nehmen wir zum Beispiel Pinocchio. Dieses italienische Kindermärchen über einen herzensguten Holzschnitzer, den Schöpfer jener Holzpuppe, die dank ihres markanten Erkennungszeichens – einer Nase, die beim Lügen zur Strafe immer länger wird – Weltberühmtheit erlangte.
Um sich von einer Holzpuppe in einen Jungen aus Fleisch und Blut zu verwandeln, muss Pinocchio sich in die gesellschaftliche Ordnung einfügen und sich des Lebens, das seinem Körper eingehaucht wird, moralisch würdig erweisen. Bis dahin, während der ihm auferlegten „Prüfungsphase“, verrät ihn seine wachsende Nase bei jeder Lüge. Um sich von einer hölzernen Marionette zum richtigen Jungen zu mausern, muss Pinocchio die Wahrheit sagen.
„Die Fähigkeit zu Lügen unterscheidet das Kind aus Fleisch und Blut von einer makellosen Puppe“
Doch im wahren Leben, jenseits des Märchens, ist die Fähigkeit zu lügen ein enormer Fortschritt in der kindlichen Entwicklung. Man könnte sogar sagen, gerade diese Fähigkeit unterscheidet das Kind aus Fleisch und Blut von einer makellosen Puppe.
Die Fähigkeit zu lügen signalisiert die Ablösung von den Eltern, das Aufbegehren gegen die Autorität, eine wichtige Stufe bei der Entwicklung des Kindes zum Subjekt. Wir bestrafen unsere Sprösslinge für ihre Lügen, erinnern uns aber nur zu gut an jene, die wir selbst einst unseren Eltern aufgetischt haben: Lügen, die Meilensteine in unserer Beziehung zu ihnen waren.
Das Lügen ist eine Sünde, stimmt, aber es ist eine höchst menschliche Sünde. Wenn das Kind sie begeht, zeigt es, dass es nunmehr zur Familie der Menschen gehört, zu den Sprachkundigen, die mit Worten spielen und kaschieren können. Bei seiner ersten Lüge begreift das Kleinkind schlagartig, dass die Sprache, die uns zumeist zur Schilderung der Wirklichkeit dient, auch dazu taugt, die Wirklichkeit zu verschleiern oder eine andere Wirklichkeit zu erfinden. Ein Kind, das niemals lügt, ist ein perfekter Spielball des elterlichen Willens, eine Marionette. Ein Kind, das lügt, ist ein richtiges Kind.
Mit Pinocchio haben wir also ein Märchen, das die Lüge als Tabu hinstellen möchte, tatsächlich jedoch das genaue Gegenteil beweist. Im Gegensatz zu Tabus wie Inzest und Vatermord – Taten, die die meisten Menschen sich kaum im Einzelnen ausmalen mögen, denn dem Bewusstsein graut es allein schon bei der Vorstellung – ist die Lüge ein fiktives Tabu. Das heißt, die meiste Zeit möchten wir das Lügenverbot zum Tabu erhöhen, aber zu anderen, nicht wenigen, Zeiten, betrachten wir das strenge Verbot lediglich als Empfehlung. Oder zuweilen nur als lästiges Hindernis.
Unsere ambivalente Einstellung zur Lüge offenbart sich, wenn wir die erste Lüge des Menschen näher untersuchen. Während der Arbeit an meinem neuesten Buch, am Ende eines besonders mühsamen Schreibtags, beschloss ich, der Sache nachzugehen. Ich schlug die Bibel auf und fragte mich, wie viele Seiten es wohl von Gottes Erschaffung des Menschen bis zu dessen erster Lüge brauchen würde. Ich bin absolute Atheistin, habe aber Hochachtung vor Mythologien und der menschlichen Wahrheit, die sie enthalten.
Darwinistisch betrachtet meine ich, dass die Mythologien uns einen Paradefall vom Überleben der Stärkeren bieten. Eine Erzählung muss sehr stark sein, sie muss einen perfekten Abschnitt der kulturellen DNA enthalten, um so lange von Generation zu Generation überliefert zu werden.
„Die ersten Worte, die Adam zu Gott sagt, sind komplett gelogen“
Doch zurück zur Bibel: Tatsächlich muss man nicht viel blättern, um von der Schöpfungsgeschichte zur ersten Lüge zu gelangen. Nachdem Adam vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, fragt Gott ihn: „Wo bist du?“, und Adam antwortet: „Ich habe dich in den Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich.“
Das entspricht natürlich nicht der Wahrheit. Adam hat sich nicht wegen seines feinen Gespürs für die angemessene Bekleidung beim Auftritt vor dem Höchsten versteckt. Er tat es, weil er das Verbot, einen Apfel zu essen, übertreten hatte und sich vor Strafe fürchtete. Das heißt, bereits die ersten Worte, die Adam zu Gott sagt, die ersten Worte, die er überhaupt ausspricht, sind komplett gelogen, in dem Bemühen, einer Strafe zu entgehen.
Wenn die Lüge jedoch so fest in der menschlichen Seele verankert ist, warum bemühen sich dann menschliche Gesellschaften immer wieder, sie als Tabu hinzustellen?
In seinem umstrittenen Buch „Totem und Tabu“ bezeichnet Sigmund Freud Inzest und Vatermord als zwei Verbote, die der Gesellschaftsordnung zugrunde liegen. Man könnte sagen, die Übertretung dieser Verbote würde unser Zusammenleben als solches direkt untergraben, ja unmöglich machen. Im Gegensatz dazu stehen symbolische Tabus – etwa das Verbot, ein bestimmtes Tier zu essen –, deren Übertreten die Gesellschaftsordnung indirekter beeinträchtigt. Hier nimmt die Lüge einen besonders interessanten Platz ein.
Um unser ambivalentes Verhalten gegenüber der Lüge zu verstehen, müssen wir bedenken, dass die Existenz der menschlichen Gesellschaft die Zusammenarbeit einer großen Anzahl von Individuen voraussetzt, die wiederum auf Vertrauen basiert.
Wie der Historiker Yuval Noah Harari zeigt, fußen die größten menschlichen Errungenschaften auf der Bereitschaft vieler Einzelpersonen, ihre Bestrebungen auf ein und dasselbe Ziel auszurichten. Und diese Bereitschaft basiert wiederum auf einer komplizierten sprachlichen Kommunikation und dem Vertrauen der Teilnehmer, dass die Zusammenarbeit in Zukunft Früchte tragen wird.
Egal, ob wir ein börsennotiertes Unternehmen gründen, einen „Turm mit einer Spitze bis zum Himmel“ bauen (wie es die Bibel über den Turmbau zu Babel erzählt), eine Schiffsflotte in die Ferne entsenden oder ein öffentliches Schulsystem errichten wollen – keines dieser Unterfangen kann ohne ein zumindest minimales Vertrauen der Beteiligten auskommen.
„Scheinbar möchten wir die Lüge ausrotten und als Tabubruch brandmarken“
Ist Vertrauen tatsächlich der Leim, der alle menschliche Tätigkeit zusammenhält, dann stellt die Lüge eine handfeste Bedrohung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar.
Eine Bank, die über ihre Lage lügt, gefährdet die gesamte wirtschaftliche Stabilität, denn der Vertrauensverlust der Banken führt zum Zusammenbruch der Wirtschaft. Ein Ehepartner, der einer Lüge überführt wird, gefährdet die Stabilität der ganzen Familie.
Scheinbar möchten wir die Lüge ausrotten und als Tabubruch brandmarken, denn wir erkennen im Vertrauensbruch einen Frontalangriff auf unsere Fähigkeit, das Gesellschaftsleben aufrechtzuerhalten. Andererseits und im selben Atemzug bringen wir unseren Kindern bei, pausenlos zu lügen. Wir tadeln sie, wenn sie ihrer Oma sagen, dass ihr Auflauf schrecklich schmeckt, oder wenn sie ehrlich sagen, der Mann im Fahrstuhl habe komische Ohren. Als Erwachsene meiden wir taktlose Zeitgenossen, die derb und freiheraus reden.
Die israelische Gesellschaft, der ich angehöre, rügt Journalistinnen und Journalisten, die unangenehme Dinge offenlegen, als „unpatriotisch“. Damit erklärt sie praktisch, dass die Wahrheit uns weniger lieb ist als die Lügen, die uns glauben lassen, dass wir im Recht sind. Offenbar gibt es eine gewisse Dosis an Wahrheit, die wir verkraften können – in der Partnerschaft, im Verhältnis zu unseren Eltern, zu unseren Kindern, zu unserer Geschichte –, möchten unsere Wahrheit die meiste Zeit jedoch lieber verdünnt und verwässert haben.
Das verkappte Tabu, die Lüge, wird von allen öffentlich geächtet, insgeheim jedoch geheiligt. Es ist ein fiktives Tabu, ein absolutes Verbot, das eine gelegentliche Erlaubnis einschließt. Alle verdammen die Lüge, aber keiner kann ohne sie leben.
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama