Wahl | Kirgistan

Die Qual der Wahl

Lange galt Kirgistan als die zentralasiatische „Insel der Demokratie“, doch zuletzt driftete das Land in den Ausnahmezustand ab
Vor einem großen Regierungsgebäude aus Beton mit vielen Fenstern stehen protestierende Menschen im Halbkreis. In ihrer Mitte brennt ein Lagerfeuer.

Aus Protest gegen das Ergebnis der Parlamentswahlen versammeln sich im Oktober 2020 Menschen vor dem besetzten Regierungssitz in Bischkek

Am 5. Oktober 2020 versank die kirgisische Hauptstadt Bischkek im Chaos. Am Tag zuvor hatten die Parlamentswahlen stattgefunden. Bis zum Abend sammelten sich 20.000 Menschen im Stadtzentrum und protestierten gegen das Ergebnis. Das Weiße Haus, der Regierungssitz, wurde gestürmt und in Brand gesetzt. An diesem Tag wurde das politische System Kirgistans auf den Kopf gestellt – und damit auch die Hoffnung, dass das Land langfristig die „Insel der Demokratie in Zentralasien“ bleibt, als die es der Westen gerne sieht.

Grund für die Proteste war der Ausgang der Wahl: Nur vier von insgesamt 16 angetretenen Parteien hatten es ins Parlament geschafft. Und diese vier Parteien hatten im Vorfeld ganz offen Stimmen gekauft: 2.000 Som, etwa zwanzig Euro, bezahlten Parteien wie Mekenem, Birimdik und Kyrgyzstan für jede Stimme. Auf Druck konservativer Kräfte gab der im Jahr 2017 regulär zum Präsidenten gewählte Sooronbai Jeenbekov seinen Rücktritt bekannt. Dieselben Kräfte machten Sadyr Japarov zum Interimspräsidenten und Premierminister in Personalunion. Sollte die kurze Phase der kirgisischen Demokratie damit schon wieder beendet sein?

Politische Instabilität ist geradezu ein Markenzeichen Kirgistans. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 hat das Land bereits zwei blutige Zäsuren erleben müssen: 2005 die sogenannten Tulpenrevolution – ein Massenaufstand, der zum Rücktritt des diktatorisch regierenden Präsidenten Askar Akayey führte – und im Jahr 2010 einen weiteren Regierungsumsturz. Das Ergebnis des Letzteren war eine tiefgreifende politische Umstrukturierung. Im Sommer 2010 stimmten die Kirgisen per Referendum für eine Verfassungsänderung, die aus dem Präsidialsystem eine in Zentralasien bis heute einmalige parlamentarische Republik machte. In den postsowjetischen Nachbarstaaten Kirgistans dienen die Parlamente meist eher als pseudodemokratische Staffage ihrer autoritären Präsidenten.

Die kirgisische Bevölkerung fordert politische Teilhabe

Dass ausgerechnet Parlamentswahlen zu einer solchen Krise führten, zeigt, dass die kirgisische Bevölkerung politische Teilhabe einfordert. „Hier gibt es unterschiedliche Lesarten von Demokratie“, sagt Medet Tyulegenov, politischer Analyst an der Amerikanischen Universität von Zentralasien in Bischkek. Er beobachtet zwar ein gewachsenes Demokratieverständnis im Land, allerdings nur unter Vorbehalt. „Einerseits ist es nicht weit her mit dem Bewusstsein, sein Stimmrecht zu nutzen, denn viele Leute haben ihre Stimmen ja zuletzt freiwillig verkauft. Die Gesellschaft hat dennoch einen Riesensprung in ihrer politischen Meinungsbildung gemacht.“

Die 44-jährige Jarkyn Samanchina ist kirgisische Landesdirektorin der britischen Naturschutz-NGO Fauna & Flora International und politisch nicht aktiv. Eine Meinung als Staatsbürgerin hat sie trotzdem. „Ich glaube“, sagt sie, „Kirgistan wird weiterhin eine ›Insel der Demokratie‹ bleiben – aber nicht dank, sondern trotz der politischen Führung.“ Seit 2010 habe sich vieles zum Besseren verändert, wenn auch nicht in allen Sphären gleich positiv. „Die Zivilgesellschaft ist sichtbarer geworden. Junge Unternehmer haben den Lebensstandard deutlich verbessert.“ Gleichzeitig wandern aus den ländlichen Regionen jedoch noch immer viele Arbeitsmigranten ab, um in der Hauptstadt oder im Ausland Geld zu verdienen, sagt Samanchina.

Die Zivilgesellschaft ist in Kirgistan so aktiv und einflussreich wie in keinem anderen Land Zentralasiens. So waren es zivile Freiwillige, die während der Corona-Pandemie ein funktionierendes System der Selbsthilfe aufgebaut hatten. Weil der Staat überfordert war, übernahmen sie während der Proteste im Oktober den Schutz von Regierungsgebäuden, versorgten Protestierende mit Essen, beseitigten Müll und appellierten immer wieder, keine Gewalt anzuwenden.

Zivile Freiwillige bauten während der Corona-Pandemie ein funktionierendes System der Selbsthilfe auf

Iskender Kakeev ist Jurist beim Rechtsberatungs-Fonds Adilet. Er postete in den chaotischen Tagen nach den Wahlen einen viel geteilten Aufruf auf Facebook, ausdrücklich „als einfacher Bürger Kirgistans“, wie er sagt. „Liebe Mitbürger“, heißt es darin, „habt keine Angst, eure Meinung zu äußern, schweigt nicht, wir sind das kirgisische Volk und die Herrschaft obliegt uns.“ Kakeev sagt, er wolle nicht von den Eliten an der Nase herumgeführt werden. Er ist überzeugt, dass die Tage nach den Wahlen nicht zufällig so chaotisch waren, wie es zunächst schien. „Das Volk hat verstanden, dass alle Organe – das Parlament, die Regierung, die Generalstaatsanwaltschaft – in Abstimmung mit dem Präsidenten gehandelt haben. Das heißt, es muss entsprechende Anweisungen gegeben haben.“

Ex-Präsident Jeenbekov war tagelang untergetaucht, bevor er sich wieder in der Öffentlichkeit zeigte. Und dass sein Nachfolger ihn scheinbar ohne großen Widerstand zum Rücktritt bewegen konnte, erzählt das ganze Dilemma der kirgisischen Politik. Denn diese wird – allen demokratischen Tendenzen zum Trotz – bis heute von Kräften bestimmt, deren Einfluss aus der Zeit vor 2010 rührt.

Der in wenigen Tagen zum Interimspräsidenten aufgestiegene Japarov, 52 Jahre alt, saß noch im Oktober 2020 eine Haftstrafe ab. Als Parlamentsabgeordneter hatte er sich in den 2010er-Jahren für die Verstaatlichung der größten Goldmine des Landes eingesetzt – gegen die damalige Regierungspolitik. Bei seinem Protest ging er so weit, dass er 2013 einen Lokalpolitiker entführte. Nach seiner Flucht ins Ausland wurde er erst 2017 bei seiner Rückkehr nach Kirgistan verhaftet. In den Wirren nach den Parlamentswahlen 2020 wurde er durch Anhänger aus der Haft befreit. Bis heute gilt er als Weggefährte des im Jahr 2005 durch die Tulpenrevolution zum Präsidenten aufgestiegenen Kurmanbek Bakiyev, der seinerseits 2010 gestürzt worden war. Damit repräsentiert Japarov das alte, korrupte Kirgistan.

Der politische Analyst Medet Tyulegenov ist darum überzeugt: „Die wichtigste Aufgabe wird es nun sein, ein System zu schaffen, das Vertrauen in politische Institutionen wie Wahlen und Parlament ermöglicht. Ein solches belastbares politisches System muss sich dann aber auch in gute Regierungsführung übersetzen.“ Für ihn ist klar, dass nur baldige Parlaments- und Präsidentschaftswahlen dieses Vertrauen schaffen können.

Japarovs Chancen, gewählt zu werden, sind gut

Ob aber eine Regierung unter Sadyr Japarov dazu in der Lage und willens sein wird, ist fraglich. Japarov hat am 14. November die Ämter des Interimspräsidenten niedergelegt, um bei den am 10. Januar 2021 geplanten Präsidentschaftswahlen antreten zu können. Seine Chancen, gewählt zu werden, sind gut. Am Tag der Wahl soll ein Referendum über eine Verfassungsreform stattfinden. Der Plan: die Verfassungsänderungen von 2010, die dem Land die parlamentarische Demokratie brachten, wieder rückgängig zu machen. Es ist zu bezweifeln, dass diese politischen Schachzüge verfassungskonform sind. Als die Pläne der Interimsregierung publik wurden, gingen erneut Hunderte auf die Straße.

Für Kirgistan steht längst nicht nur der Ruf als einzige Demokratie Zentralasiens auf dem Spiel. Es geht um die langfristige politische Stabilität und eine Wirtschaft, die den aktuellen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie adäquat begegnen kann.