Tabu

Die Macht der Verbote

Wie Tabus entstehen und warum Menschen sie brechen
Ein Porträt von Manvir Singh. Er trägt einen Turban und Brille, hat einen Bart, die Arme sind vor seiner Brust verschränkt und er lächelt in die Kamera.

Anthropologe Manvir Singh

Einer alten Inuit-Erzählung zufolge feierte einst eine wunderschöne Frau Sex-Partys in ihrem Haus. Junge Leute kamen vorbei, trieben ihre Spiele und trafen sich dann draußen. Die Männer folgten ihren Auserkorenen, doch in der Dunkelheit konnten die Frauen nicht sagen, wer ihre Partner waren. 

Eines Nachts wollte die Gastgeberin wissen, wer sie erwählt hatte. „Ich rieb also“, so erzählte sie, „meine Hände mit Ruß ein, bevor ich mich zu den anderen gesellte.“ Nachdem sie mit ihrem Partner Sex hatte, schmierte sie den Ruß über seinen Rücken und lief zum Haus zurück. 

Sie prüfte die Eintretenden einen nach dem anderen, „aber eine ganze Weile“, so sagte sie, „sah ich keinerlei Spuren“. Dann kam ihr Bruder herein, „und ich sah sofort, dass die Rückseite seines Jacketts überall mit Ruß beschmiert war“.

Fühlte sie sich angewidert? Missbraucht? Die Geschichte sagt es nicht. Stattdessen erfahren wir, dass sie ein Messer nahm, sich die Brüste abschnitt, diese ihrem Bruder reichte und sagte: „Da mein Körper dir zu gefallen scheint, nimm sie bitte und iss sie auf.“ Dann drehte sie sich um und rannte davon. 

Er folgte ihr. Sie zündete ein Bündel Moos an, um es als Licht zu verwenden. Er tat es ihr nach. Sie liefen, bis „ich plötzlich spürte“, so erzählte sie, „dass wir in die Höhe gehoben wurden und in den Himmel stiegen“. Sie stieg höher und höher und ihr Licht wurde heller, bis sie die Sonne wurde, die Quelle von Sommer und Wärme.

Auch er stieg höher, aber sein Licht wurde schwächer, bis er der Mond war, kalt und dunkel. Bis zum heutigen Tage umkreisen sie sich oben am Himmel.

„Jemand begeht den verachtungswürdigsten Akt und etwas Kosmisches entsteht, eine übernatürliche Energie wird freigesetzt“

Am Anfang war der Inzest. Gaia vereinte sich mit ihrem Sohn Uranus und gebar die zwölf Titanen. Brahma verführte seine Tochter Sarasvati und setzte die Schöpfung in Gang.

Die ägyptische Mythologie enthält eine ganze Reihe inzestuöser Paarungen. Bei den Tukanos aus Amazonien hatte die – bei ihnen männliche – Sonne Sex mit seiner Tochter, bevor diese in die Pubertät kam, worauf etwas in ihr zerriss und einen Blutfluss auslöste. Dass Frauen allmonatlich menstruieren, erinnert an diese Sünde.

Alle diese Geschichten drehen sich um die Verbindung von Macht und Verbot. Jemand begeht den verachtungswürdigsten Akt und etwas Kosmisches entsteht, eine übernatürliche Energie wird freigesetzt. Eine Energie, die die Welt verändert und das Außergewöhnliche hervorbringt. Götter, Helden, die Sonne, der Mond, jedwede Schöpfung resultiert aus dem Vollzug des Verbotenen.

In vielen Gesellschaften begingen Könige und Königinnen Inzest – sei es um ihre Abstammung zu sichern oder um zu Göttern zu werden. „Inzest ist qua Definition ein Instrument zur Erschaffung von Göttlichkeit“, bemerkte die hawaiianische Gelehrte Lilikalā Kame’eleihiwa – tatsächlich sei „der Akt des Inzests selbst der Beweis der Göttlichkeit“.

Die Verbindung von Mächtigem und Verbotenem bildet den Kern des Tabus. Tabus treten in vielfältiger Form auf, von nahezu universellen (schände keine Gräber, schlafe nicht mit deiner Mutter) bis zu kulturell spezifischen (iss kein Schweinefleisch, fahre am Sabbat nicht Auto).

Doch was sie eint, ist die Transzendenz des reinen Verbots. Ein tabuisierter Akt ist nicht unrecht, weil wir ihn für unrecht halten. Er ist nicht unrecht, weil eine Autorität dies erklärt. Vielmehr ist er unrecht, weil er geheiligt ist oder gefährlich oder unrein oder auf unerklärliche und unbestreitbare Weise undenkbar. Das Tabu, so spüren wir, ist dem Stoff des Universums eingewoben.

„Einige Psychologen meinen sogar, dass wir gewisse Handlungen als tabu darstellen, um die Aufmerksamkeit von Freunden und Anhängern zu erregen“

Woher kommen Tabus? Aus vielen Richtungen, so scheint es. Einige entstammen unserer abergläubischen Seele. Eine Schwangerschaft zum Beispiel ist unvorhersehbar und endet manchmal mit dem Tod von Mutter und Baby. Aus diesem Grund begegnen die Menschen ihr überall auf der Welt mit Vorsicht und befolgen eine lange Liste von Tabus, um sicherzustellen, dass alles reibungslos verläuft.

Auf der indonesischen Insel Siberut etwa, auf der ich seit 2014 Feldforschung betreibe, ist es für schwangere Frauen tabu, Knoten zu knüpfen, Nägel einzuschlagen und sogar Sex zu haben – alles, um den heranwachsenden Fötus zu schützen.

Andere Tabus sind an Kooperation gebunden. Wenn wir etwa Loyalität, unser Land oder das menschliche Leben als geheiligt betrachten – und somit deren Verletzung als völlig undenkbar –, dann weichen wir niemals von diesem Kurs ab.

Einige Psychologen meinen sogar, dass wir gewisse Handlungen als tabu darstellen, um die Aufmerksamkeit von Freunden und Anhängern zu erregen. Wenn also angenommen wird, dass die Gruppe heilig ist, dann gilt ein Mitglied wohl gerade dann als maximal vertrauenswürdig, wenn es stets dem Herrscher gehorcht oder niemals ein Gruppensymbol wie etwa die Fahne verunglimpft.

Eine dritte Art von Tabus rührt von evolutionären Aversionen her. Ende des 19. Jahrhunderts vermutete der finnische Anthropologe Edvard Westermarck, dass Inzest-Tabus das Ergebnis der biologischen Evolution seien. Weil Inzest-Nachkommen weniger gesund sind, so folgerte er, stattete die Evolution uns mit Abscheu gegenüber dem Inzest aus.

Obwohl Westermarcks Theorie während der längsten Zeit des 20. Jahrhunderts in der Versenkung verschwand, wurde sie in den beiden letzten Jahrzehnten zur maßgeblichen Referenz für die Universalität des Inzest-Tabus. Tabus gegenüber Nekrophilie, Kannibalismus, Koprophagie (Verzehr von Kot) und Sodomie könnten ihren Ursprung ebenfalls in evolutionären Schutzmechanismen haben – in diesen Fällen gegenüber Krankheitserregern.

„Tabus bieten Einblicke in unser Seelenleben und unsere Gesellschaften“

Dies ist jedoch lediglich eine Auswahl von Erklärungen. Auf der Suche nach den Ursprüngen von Tabus haben Wissenschaftler Berge von Spekulationen veröffentlicht. Sie haben behauptet, Tabus seien nützlich, seien nutzlos, seien Kontrollmechanismen.

Es hieß, sie seien wichtige Techniken, historische Überbleibsel, Ausweis der Gruppenzugehörigkeit und sonderbare Artefakte, die die Grenzen des menschlichen Geistes widerspiegeln. Freud glaubte, Tabus entstünden aufgrund einer starken Ambivalenz: Wir fürchten einige Objekte, aber wir achten sie auch; wir begehren sie, aber wir verabscheuen dieses Begehren.

Infolgedessen hüllen wir die Objekte in geheiligte Verbote. Freuds Erklärung ist entweder unvollständig oder falsch. Doch sie führt zu etwas Tieferem: Tabus bieten Einblicke in unser Seelenleben und unsere Gesellschaften.

In gewisser Weise berühren sie – wie bei vertrauter Geselligkeit – alle wichtigen kulturellen Bereiche: Politik, Moral, Religion, Identität, sogar Humor und Küche. Rühre an einem Tabu, so scheint es, und alles erbebt in heftiger Reaktion.

Ich selbst lebe nun schon seit einigen Monaten in Frankreich, aber das Ethos des Landes lernte ich erst vor wenigen Wochen (während ich dies schrieb) ganz genau kennen, als ein 18-jähriger Muslim tschetschenischer Herkunft einen französischen Lehrer enthauptete, weil er in seiner Klasse Cartoons des Propheten Mohammed gezeigt hatte.

Präsident Emmanuel Macron sprach von einem „typischen islamistischen Terrorakt“, doch es war ebenso sehr ein Aufruhr der Tabus – jene höllische Explosion, zu der es kommt, wenn zwei unvereinbare Tabusysteme aufeinanderprallen: auf der einen Seite die Undenkbarkeit einer bildlichen Darstellung von Göttern; auf der anderen Seite die Unantastbarkeit von Säkularismus und Meinungsfreiheit.

In den Tagen danach boomte das Hashtag #JeSuisProf („Ich bin Lehrer“) auf Twitter. Zehntausende Demonstranten gingen auf die Straßen, um sich mit dem getöteten Lehrer zu solidarisieren.

In Meinungsumfragen hielten 87 Prozent der Befragten die Tat für einen Angriff auf den Säkularismus. In dem Wettstreit um Tabus erklärte die französische Gesellschaft kollektiv, was ihr heilig war und was nicht. Sie festigte eine politische Identität.

„Was für den einen ein Scherz ist, kann für den anderen eine Entehrung bedeuten“

Dem Harvard-Psychologen Joshua Greene zufolge sind derartige Tabu-Zusammenstöße das Ergebnis der Globalisierung. „Natürlich“, schrieb er in seinem 2013 erschienenen Buch „Moral Tribes“, „ist ,Wir gegen sie‘ ein uraltes Problem. Aber historisch gesehen war es eher ein taktisches als ein moralisches Problem.“

Wo Menschen mit unterschiedlichen Werten und Ansichten sich in einem in der Menschheitsgeschichte beispiellosen Ausmaß vermischen, kommt es unvermeidlich zu Reibungen zwischen ihren Moralsystemen. Was für den einen ein Scherz ist, kann für den anderen eine Entehrung bedeuten. Was für den einen bloß eine Bestrafung ist, wird für den anderen zum Angriff auf die Moral schlechthin. Unsere Fähigkeit zur friedlichen Koexistenz hängt davon ab, ob wir einen gemeinsamen Sinn für das Heilige schaffen können.

Es mag uns befremden, dass die Inuit, die Griechen und so viele andere Völker Tabuverletzungen mit einer so allumfassenden Kraft aufluden. Doch nur wenige Handlungen sind so bedeutsam, rufen einen solchen Zorn hervor wie Tabuverletzungen.

Wenige Überzeugungen sind so zentral für die eigene Identität wie das, was man für frevelhaft oder undenkbar hält. Der Schlüssel zu unseren Herzen, unserer Seele und unserer Moral liegt in unseren heiligen Verboten.

Aus dem Englischen von Christian Seeger