Die Erfahrungen anderer gelten lassen
Beim Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis 2019 in Klagenfurt passierte etwas Bemerkenswertes. Als die 27-jährige Ronya Othmann ihren Text »Vierundsiebzig« vorlas, verweigerten einige Jury-Mitglieder die Diskussion. Sie meinten, Autorin und Ich seien identisch, sie als Jury würden also über eine Lebensgeschichte urteilen, nicht über Literatur. Und das sei in diesem Fall besonders problematisch: Der Titel „Vierundsiebzig“ ist eine Anspielung auf den „74. Ferman“. Mit „Ferman“ bezeichnen Jesidinnen und Jesiden die Versuche, sie zu vernichten. Dies geschah im August 2014 im Nordirak vor den Augen der Weltöffentlichkeit zum 74. Mal, damals durch den sogenannten Islamischen Staat.
Ronya Othmann, die in Klagenfurt dann den Publikumspreis gewann, hatte ihren Text in der Ich-Perspektive geschrieben. Die Erzählerin hat wie die Autorin einen deutsch-kurdisch-jesidischen Familienhintergrund. Othmann beschreibt, wie diese junge Frau im deutschen Fernsehen die Berichte über den Genozid an den Jesiden verfolgt. Sie erzählt, wie sie vier Jahre später ihre Verwandten im irakisch-syrisch-türkischen Grenzgebiet besucht, mit einer kurdischen Kämpferin spricht und sich auf die Spuren ihrer Familiengeschichte begibt. An einer Stelle heißt es: „Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist. Die Sprachlosigkeit ist das Unbeschreibliche. Sie strukturiert den geschriebenen Text, legt seine Grammatik fest, seine Form, seine Worte.“
Othmanns Text handelt von dem Filter, der zwischen der jungen Frau und den Gewalterfahrungen liegt – Erfahrungen, von denen sie durch Augenzeuginnen und Medienberichte erfährt. Er fragt nach den Möglichkeiten, eine Sprache zu finden, die diese Erfahrungen vermitteln kann. Die Ich-Perspektive ist für diese Frage wichtig, da das Ich sich selbst nicht beschreiben muss. Es wirkt wie eine Kamera, also wie ein weiterer Filter, der sich zwischen die Leser und ihre Lektüreerfahrung schiebt. Othmann verdoppelt so die Situation und schafft anstelle einer Identifikation, die fiktiv bleiben muss, eine real empfundene Distanz. Eine außerordentlich kluge literarische Strategie, die die traumatischen Erfahrungen, von denen die Erzählerin erfährt, nicht herabsetzt oder entwertet.
Spricht man den Erfahrungen, von denen Othmann erzählt, nicht ihr Existenzrecht ab, wenn man sich weigert, über diesen Text zu diskutieren?
Abgesehen von der Frage, ob Ronya Othmanns Text wirklich als autobiografisch oder autofiktional einzuordnen ist, und auch außer Acht gelassen, dass die Autorin ihren Text selbst als literarisch kennzeichnete, als sie ihn einer Jury vorlegte: Spricht man den Erfahrungen, von denen Othmann erzählt, nicht ihr Existenzrecht ab, wenn man sich weigert, über diesen Text zu diskutieren?
Ronya Othmann hat den Roman, aus dessen Manuskript sie in Klagenfurt las, nun unter dem Titel „Die Sommer“ veröffentlicht. Allerdings hat sie die Erzählperspektive verändert: Aus der Ich-Erzählerin ist „Leyla“ geworden, von der eine übergeordnete, anonyme Instanz berichtet. Eine Reaktion auf die Klagenfurter Jury?
Mit dem Wechsel der Perspektive nimmt Othmann ihrem Text die ästhetische Brisanz, die auch eine ethische ist, und reiht ihn in die klassischen Erzählungen von der Zerrissenheit zwischen verschiedenen Kulturen und unterschiedlichen kollektiven Erfahrungen ein. Ist ihr Roman für uns hierzulande verträglicher, weil wir die Geschichte in eine andere Figur auslagern können und nicht so direkt mit Othmanns Fragen konfrontiert sind, wie es noch in der Originalform der Fall war?
„Ich war nicht schaumgeboren, sondern staubgeboren; rußgeboren, geboren aus dem Kochsalz in der Luft, das sich auf die Autodächer legte"
Die Zerrissenheit der Hauptfigur ist im Genre der Erzählungen von migrantisch geprägten Familien- und Entwicklungsgeschichten inzwischen ein Topos. Man muss ihn aber nicht nutzen. „Streulicht“, der Debütroman von Deniz Ohde, handelt ebenfalls von einer jungen Frau. Sie wächst in einem von Industrie geprägten Vorort auf. Ihr Vater arbeitet in einer Chemiefabrik am Band, die Mutter ist aus einem anatolischen Dorf eingewandert. Die Tochter schreibt: „Ich war nicht schaumgeboren, sondern staubgeboren; rußgeboren, geboren aus dem Kochsalz in der Luft, das sich auf die Autodächer legte. Geboren aus dem sauren Gestank der Müllverbrennungsanlage, aus den Flusswiesen und den Bäumen zwischen Strommasten, aus dem dunklen Wasser, das an die Wackersteine schlug, einem Film aus Stickstoff und Nitrat, nicht Gischt.“
Ohde erzählt entlang eines Bildungsweges davon, dass Menschen wie ihre Erzählerin gesellschaftlich regelrecht daran gehindert werden, ihre Individualität zu entfalten. Nach dem Motto „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ sind es sowohl die Eltern, die aus Furcht und Beschützerinstinkt ihre Tochter zur Anpassung drängen, als auch die Lehrer, die von einem sozial stigmatisierten Kind – der Vater trinkt, die Mutter kommt von „woanders“, beide lesen nicht – nicht erwarten wollen, dass es intelligent und förderungswürdig ist. Vorsichtig erzählt Ohde von Ausgrenzung und Diskriminierung, ohne aber in Klischees abzurutschen. Ihr Roman ist eine Geschichte, die von Nähe in schwierigen Verhältnissen erzählt, von der zerstörerischen Macht der Gefühle und einer jungen Frau, die langsam eine Sprache für ihre Erfahrungen findet. Die Leserinnen gehen diesen Weg mit und stellen sich am Ende selbst die Frage: Wie kann es sein, dass ein solches Kind durchs Raster fällt?
Die Kluft zwischen Ronya Othmanns Hauptfigur und der ignoranten Mehrheitsgesellschaft wirkt am Ende von „Die Sommer“ unversöhnlich. Nicht weniger radikal aber ist es, wie Deniz Ohde mit dem Verstehensprozess ihrer Erzählerin auch den der Leserin orchestriert. Beide Romane lassen sich politisch als Plädoyer für die Pluralisierung des kollektiven Gedächtnisses lesen. Die ist notwendig, wenn die Mitglieder einer Gesellschaft wirklich miteinander leben wollen. Denn dafür müssen sie unterschiedliche Prägungen, Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten erst einmal als solche anerkennen.