„Stets im dunklen Anzug“
Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll: Für viele Rockstars gilt diese Formel ein Leben lang. Der Werdegang von Nick Cave zeigt jedoch, dass auch Musiker in Würde altern können

Nick Cave
Foto: Steve Schofield/ Contour by Getty Images
Jeder muss – wenn ihn der Schnitter nicht schon früher holt – mit dem Älterwerden klarkommen, mit dem Abnehmen der Energie, dem Verfall des Körpers und dieser neuen Müdigkeit in den Augen, die schon so viel gesehen haben. Für Rockstars ist das mitunter besonders schwierig, verkaufen sie doch Jugendlichkeit, Sturm und Drang, Sexualität, Schönheit und die scheinbar unendlichen Möglichkeiten des noch vor ihnen liegenden Lebens. Sie werden dafür vergöttert, oft jahrzehntelang. Was aber, wenn all das vergeht? Wenn es einfach nicht mehr da ist, aber immer noch gefordert wird? Wie kann man als Rockstar in Würde altern? Die Antwort ist einfach und gilt nicht nur für Rockstars: Indem man sich weiterentwickelt, im Wandel bleibt – im Schaffen und als Mensch. Kurz gesagt: indem man es so macht wie Nick Cave.
Streng genommen war Nick Cave nie ein Rockstar, er wird es gerade erst, mit 62. In den vier Dekaden seines Schaffens war er zwar immer bekannt, ein »Kultstar«, eine Institution, die sich mit jedem Album weiter in die Riege von Bob Dylan, Leonard Cohen und Johnny Cash bewegte, aber kein Mann, der Hits schrieb und Stadien füllte. Erst die Tour zu seinem neuen, weltweit gefeierten Album »Ghosteen« führt ihn jetzt in die ganz großen Arenen. Hits schreibt Cave immer noch nicht, im Gegenteil. »Ghosteen« ist eine refrainlose und vollkommen rockmusikfreie Klangfläche, über der er mit geradezu schmerzhafter Schutzlosigkeit davon singt, wie man Trauer überwindet und zurück ins Leben findet: Es ist die vorerst letzte Stilwandlung in einer ganzen Reihe von musikalischen Kurswechseln, die Cave seit seinen Jugendtagen scheinbar mühelos vollzogen hat.
Wenn man seine Musik hörte und dann ein Foto von ihm sah, wunderte man sich immer, dass er so ein junger, jungenhaft wirkender Mann war.
Ohnehin hat das Alter Nick Cave nie wirklich etwas anhaben können, vielleicht weil sich seine Kunst eben nicht aus der Jugend speist. Er wurde nie für die Dinge bewundert, die ein Mick Jagger am Leben halten muss, damit keiner merkt, dass da ein 76-Jähriger »(I Can’t Get No) Satisfaction« singt. Im Gegenteil: Cave klang schon mit Ende zwanzig wie ein alter Mann, weil er in oft alttestamentarischen Bildern und mit tiefer, theatralischer Stimme Geschichten erzählte, die von Schuld und Sühne handelten, von Liebe, Schmerz und der Sehnsucht nach Erlösung – düstere, anfangs wilde und brutale, später immer romantischere Songs voller Drama und klug dosiertem Pathos, auf der Bühne vorgetragen in Predigerpose, stets im dunklen Anzug.
Wenn man seine Musik hörte und dann ein Foto von ihm sah, wunderte man sich immer, dass er so ein junger, jungenhaft wirkender Mann war. Manchmal kann das Altern auch eine Angleichung sein – das Leben zieht die Furchen, die die Lieder schon haben. So ist es bei Nick Cave. Und dann ist da noch viel mehr.
Wenn es in Caves Schaffen eine Konstante gibt, dann die, dass es keine Konstante gibt. Auf die kaputten Post-Punk-Tumulte seiner Band The Birthday Party folgten die wuchtigen, oft schwelgerischen Lieder von Nick Cave & The Bad Seeds, und jedes Album ging einen Schritt weiter, vom Rock zum Blues, zu üppig instrumentierten, schwarzhumorigen Mörderballaden – bis Cave 1997 allein am Klavier saß und »The Boatman’s Call« aufnahm, eine intime Vermessung eines gebrochenen Herzens – und eine weitere Wende.
Danach fand er die Liebe seines Lebens, kam vom Heroin los, das ihn bis dahin wundersamerweise noch nicht umgebracht hatte, und lebte ein bürgerliches Leben; ging jeden Morgen ins Büro, um zu arbeiten – und wie! Er schrieb einen famosen zweiten Roman, dreieinhalb Drehbücher, komponierte mit seinem kongenialen Kompagnon Warren Ellis Filmmusiken, lebte seine Midlife-Crisis mit einem Schnauzbart und dem rotzigen Bad-Seeds-Nebenprojekt Grinderman aus und veröffentlichte neue Alben mit den Bad Seeds. Es lief gut und er hätte einfach so weiter machen können. Doch 2013 veränderte er seine Formel erneut.
Er habe schon früh erkannt, sagte Cave dem Magazin VICE im Jahr 2017, dass er sich ständig wandeln müsse, um als Songwriter relevant zu bleiben. »Ich sah, dass die meisten Bands nur zwei, vielleicht drei gute Alben machen, und dann sterben sie. Der Grund dafür ist, dass sie versuchen, ihre früheren Erfolge zu wiederholen.« Indem er sich als Künstler ständig »in neue Musikformen« bewege, bleibe die Sache nicht nur für die Fans spannend, die sich jedes Mal wieder entscheiden müssen, ob sie die Band mögen, »es setzt auch in der Band neue Energien frei«.
Der gemeine Rockstar muss immer wollen, Sturm und Drang – sobald er schwächelt, reißt der Tod der Feier des Lebens den Schleier weg.
2013 erschien »Push the Sky Away«, und wieder war vieles anders. In seinen Songs erzählte Cave keine Geschichten mehr, alles war abstrakter, fragmentarischer, die prosaische Theatralik war einer Poesie gewichen, die den Mysterien des Daseins in den Brüchen nachspürte. Cave verlor einige alte Fans und fand viele neue, ein pseudodokumentarischer Film namens »20.000 Days on Earth« zementierte seinen Mythos – da hatte er dem Kulturbild des »alternden Rockstars« schon längst ein Schnippchen geschlagen.
Der gemeine Rockstar muss immer wollen, Sturm und Drang – sobald er schwächelt, reißt der Tod der Feier des Lebens den Schleier weg. Doch Nick Caves Feier des Lebens war stets ein Tanz um den Tod – der Schnitter grinste ihm immer über die Schulter, während Cave auf der Suche nach dem Schönen die dunklen Seiten des Lebens und der Liebe auslotete.
Doch dann sprang ihm der Tod mitten ins Gesicht: Im Juli 2015 stürzte sein Sohn Arthur im Alter von 15 Jahren im LSD-Rausch von einer Klippe bei Brighton und starb. In seinem Versuch, zurück ins Leben zu finden, handelte Cave gegen alle Instinkte und Ängste und seine bisherigen Strategien im Umgang mit dem Ruhm und der Öffentlichkeit – und erfand sich abermals neu, diesmal radikaler als je zuvor. Während der Aufnahmen zum Album »Skeleton Tree« ließ er einen Film drehen, der das Entstehen dieser vom Schmerz zersplitterten Songs dokumentiert und ihn ohne Masken und Mythos zeigt. Er ging auf Tour, obwohl es ihn davor graute, und fand Heilung in der Nähe zu seinen Fans, die er sich bis dahin stets in einer Pose der Unnahbarkeit vom Leib gehalten hatte.
Und er ging noch weiter, setzte sich in kleineren Hallen auf die Bühne und ließ sich von den Leuten ausfragen; natürlich ging es viel um den Tod seines Sohnes und um Trauer, aber auch um seine Socken. Dann startete Cave, der Interviews immer gehasst hatte, einen Blog namens »The Red Hand Files«, auf dem er mit beispielloser Offenheit die Fragen der Fans beantwortet, als würde er Erlösung darin finden, sich anderen Menschen zu öffnen. Er schreibt dort darüber, dass es die Fähigkeit zum Staunen ist, die uns am Leben erhält, beruhigt einen Fan, dass auch im Alter sein Sextrieb nicht nachlässt, und verrät in einem seiner jüngsten Beiträge das Geheimnis seines Überlebens als Musiker und Mensch: »Als Songwriter habe ich mich der Ungewissheit verschrieben und das zu umarmen, was ich nicht weiß, weil ich fühle, dass dort wahre Bedeutung existiert. ... Das hält mich offen für Veränderungen, gibt mir das Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten und erfüllt mich mit einer Hingabe zu den Mysterien der Welt. Dieser Ansatz ist nicht nur gut für mein Songwriting, sondern auch für mein Leben.«
Es ist im Leben wie in der Kunst: Nur wer offen bleibt und bereit für Veränderungen, macht das Altern zu dem, was es letztlich ist: der unaufhaltsame Verfall unserer Zellen. Was jung bleiben kann bis zum Schluss, ist meist der Geist – die Art und Weise, auf die wir der Welt und dem Leben begegnen.