Hühner gegen Einsamkeit
In Taiwan gibt es immer mehr alte Menschen. Wie leben sie und wo ist ihr Platz in der Gesellschaft? Zwei Initiativen suchen nach Antworten

Der 65-jährige Jin-Xiang Xu mit Henne in einem Gartenprojekt in Kaohsiung
Foto: Gundula Haage
Im Februar 2016 verschwand Steve Lius Vater aus seinem Zuhause in Südtaiwan. »Kurz davor war er in Rente gegangen«, erzählt Liu, 40, der als Marketingexperte in der Hauptstadt Taipeh lebt. »Mein Vater hatte viel Zeit, keine Geldsorgen, war gesund – ich dachte, er genießt den Ruhestand. Aber plötzlich war er weg. Das Einzige, was von ihm blieb, waren drei Briefe, in denen er meiner Mutter, meinem Bruder und mir befahl, nicht nach ihm zu suchen.« Steve Liu war ratlos: Was hatte seinen Vater, den ehemals erfolgreichen Geschäftsmann, dazu gebracht, fortzugehen – kaum, dass sein aktives Berufsleben vorbei war?
In Taiwan gehen Männer im Durchschnitt mit 62,3 Jahren in Rente, Frauen mit 59,7 Jahren. Gleichzeitig liegt die Lebenserwartung bei 80,4 Jahren. Viele Ältere haben also noch einige aktive Jahre vor sich, wenn sie in den Ruhestand gehen. »Die Meisten sehnen sich dann nach einer Aufgabe, nach Sinn«, erklärt Yu-Juin Wang. Die Kulturkritikerin beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem demografischen Wandel in Taiwan. »Früher lebten die Großfamilien zusammen, die Älteren kümmerten sich um ihre Enkel. Aber diese typisch chinesischen Familienstrukturen funktionieren nicht mehr. Jetzt arbeiten viele im erwerbsfähigen Alter im Ausland oder in den großen Städten, während die Alten zurückbleiben.«
Doch nun, seinen eigenen Vater vor Augen, sah er plötzlich überall unglücklich wirkende Alte
Nach einer Woche der Ungewissheit kehrte Steve Lius Vater nach Hause zurück. Er hatte die Zeit in einer Design-Wohnanlage für gut betuchte Senioren verbracht – als Flucht vor den Streitereien mit seiner Frau und der heimischen Leere. Nach seinem »kurzen Abenteuer«, wie er es nannte, war er bereit, sich dem Rentnerdasein zu stellen. Seinen Sohn ließ das Thema Altern allerdings nicht mehr los. Liu sagt von sich selbst, dass er kein besonders enges Verhältnis zu seinen Eltern gehabt habe. Die Sorgen älterer Menschen hatten ihn früher nie beschäftigt. Doch nun, seinen eigenen Vater vor Augen, sah er plötzlich überall unglücklich wirkende Alte. Er, der lange für große Tech-Konzerne wie Samsung und Sony gearbeitet hat, glaubt an das vernetzende Potenzial digitaler Technik. »Viele ältere Menschen leben in der analogen Welt. Aber das Leben findet heute größtenteils online statt. Wenn man sich damit nicht auskennt, ist man außen vor.« Im August 2016 gründete er mit zwei Freunden die Organisation Fun Aging. Das Ziel: älteren Menschen den Weg ins digitale Zeitalter zu weisen.
An einem Freitagnachmittag im November 2019 sitzen rund dreißig Seniorinnen und Senioren in einem kleinen Ladengeschäft in Dadaocheng, einem der ältesten Viertel Taipehs. Alle sind konzentriert über ihre Smartphones gebeugt. Guei-e Yang kneift die Augen zusammen, während sie mit der Kamera eine vor ihr liegende Orange fokussiert. Klick – das Bild ist im Kasten. Jetzt muss nur noch mit der App »Foodie« das Beste aus dem Foto herausgeholt werden. Bereits zum fünften Mal kommt die 72-Jährige zu einem Smartphone-Training von Fun Aging. »Jedes Mal lerne ich hier etwas Neues. Wie man Insta-Messenger benutzt oder sich mit Google Maps orientiert.« Auf das Thema Fotobearbeitung hatte sie sich schon im Voraus gefreut. »Meine Freunde laden immer Fotos von ihrem Essen in unserer Chatgruppe hoch. Mit dem, was ich hier lerne, kann ich da bald mithalten«, sagt Yang zufrieden. Mit ihren Enkelinnen, 10 und 17 Jahre alt, hat sie viel mehr Kontakt, seit sie den in Taiwan beliebten Messengerdienst »Line« nutzt.
Organisationen wie Fun Aging treffen mit ihrem Angebot einen Nerv, denn in Taiwan lebt eine der am schnellsten alternden Gesellschaften der Welt. 15 Prozent der Bevölkerung sind bereits über 65 Jahre alt, ab 2025 werden es 20 Prozent sein, also jede fünfte Person. Gleichzeitig hatte das Land im vergangenen Jahr die niedrigste Geburtenrate weltweit und seit 2015 sinkt der Anteil der arbeitenden Bevölkerung. »Problematisch ist, dass der demografische Wandel so schnell passiert«, sagt die Altersexpertin Yu-Juin Wang. »In anderen alternden Gesellschaften wie Deutschland oder Japan fand diese Entwicklung über vierzig bis fünfzig Jahre statt. In Taiwan haben wir nur knapp zehn Jahre, um uns auf die gesellschaftlichen Veränderungen vorzubereiten.«
Die Herausforderungen sind zahlreich: Von ihrer Rente können nur diejenigen leben, die zuvor sehr gut verdient haben. Und schon jetzt werden so viele Pflegekräfte gebraucht, dass der Bedarf nur durch Arbeitsmigrantinnen aus Nachbarländern wie Indonesien gedeckt wird. Wang ist überzeugt: »Wenn wir nicht alle mit anpacken und neue Formen des Zusammenlebens finden, steuern wir als Gesellschaft auf eine demografische Katastrophe zu.«
Auf einer kleinen Farm in der südtaiwanischen Stadt Kaohsiung zieht der 65-jährige Jin-Xiang Xu energisch ein Büschel Unkraut aus der lockeren Erde. Ratsch, ratsch, ratsch – mit zielsicherem Griff entwurzelt er drei Gewächse, die zwischen Chilipflanzen, Salat und roter Beete sprießen. Er nickt zufrieden. »Die Hennen haben schon die meiste Arbeit geleistet. Alles wächst gut hier, schließlich düngen wir nur mit Hühnermist.« Zweimal am Tag kommt er zu dem Gartenprojekt, das die Tierschutzaktivistin Huan-Ching Yang entwickelt hat. Seit 2012 setzt sie sich für artgerechte Hühnerhaltung und nachhaltige Landwirtschaft in Taiwan ein, verbunden mit einer Idee, wie man Alte dabei einbinden kann. »Als meine eigenen Eltern älter wurden, ist mir klar geworden, dass es eine unglaubliche Ressource sein kann, ältere Menschen für nachhaltige Tierhaltung zu begeistern«, erzählt sie. Mit ihrer Organisation Hen and Traveller baut Yang städtische Gartenprojekte auf, in denen Seniorinnen und Senioren Hühner halten, Permakulturgärten bewirtschaften und mit dem Verkauf der Eier und des ökologischen Gemüses ihre Rente aufbessern können.
Für ein erfülltes Leben im Alter braucht es offenbar vor allem Aufgaben und das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein – ganz gleich, ob dies nun im Messengerchat oder bei der gemeinsamen Gartenarbeit geschieht
Deshalb ist Jin-Xiang Xu hier. Er füttert die neun Hennen, kümmert sich um die Beete und genießt die Natur fern der städtischen Hektik. »Seit ich mitmache, fühle ich mich großartig. Mit der vielen frischen Luft und Bewegung werde ich bestimmt noch hundert«, sagt Xu, braun gebrannt, mit tiefen Lachfalten um die Augen, und grinst breit. »Das ist die Macht der Hennen«, davon ist die Initiatorin Huan-Ching Yang überzeugt. »Durch ihre Eier bleibt man gesund, aber Hennen sind auch wunderbare Haustiere, die alten Menschen Gesellschaft leisten können.« Die besagten Hennen begrüßen Xu mit munterem Gackern, als er das geerntete Unkraut vermengt mit ein paar Körnern in ihre Futterschalen rieseln lässt. Vorsichtig hebt er eine von ihnen aus dem Gehege. »Ich mag Hühner. Sie haben einen ganz eigenen Charakter«, sagt er und drückt die Henne an sich.
Ob mit Henne oder Smartphone: Für ein erfülltes Leben im Alter braucht es offenbar vor allem Aufgaben und das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein – ganz gleich, ob dies nun im Messengerchat oder bei der gemeinsamen Gartenarbeit geschieht. Fällt alles, was das Leben lebenswert gemacht hat, mit dem Renteneintritt weg, dann ist die plötzliche Leere schwer auszuhalten.
Steve Lius Vater lacht heute über seine Flucht aus dem Rentnerdasein. Doch sein Sohn hat sie nicht vergessen: »Durch Fun Aging kenne ich ganz verschiedene ältere Menschen. Ich verstehe mittlerweile, wie es ihm damals ging«, sagt er nachdenklich. »Er war Geschäftsmann, immer beschäftigt und wusste einfach nicht, wie er damit umgehen sollte, nicht mehr wichtig zu sein.« Das Verhältnis der beiden hat sich seitdem verbessert. Aber an den Kursen seines Sohnes hat Lius Vater bis heute nicht teilgenommen.