Alter

Eine sterbende Viktorianerin

Die Urgroßmutter im Sauerstoffzelt, mein wilder Großvater, unsere Nachbarin Miss Dickie: Eine Reise zu den alten Menschen meines Lebens

Ein Porträt der Autorin A. L. Kennedy. Sie hat kurze dunkle Haare und trägt eine Brille. Die linke Hand liegt auf einem Tisch, der Kopf ist geneigt und wird von der rechten Hand gestützt. Sie lächelt in die Kamera. Im Hintergrund steht ein Bücherregal.

Die Autorin A. L. Kennedy

Altwerden scheint etwas zu sein, dass nur anderen passiert. Wir mögen die Dinge, die uns gefielen, als wir vierzig, zwanzig oder fünf Jahre alt waren. Es muss viel geschehen, damit ein langes Leben zu einer Strafe wird und wir dem Tod entgegenfiebern. In Seniorenheimen und bei so mancher gesellschaftlichen Initiative trifft man auf ältere Menschen, die mehr »Unterstützung für Senioren« fordern, eine Gruppe, der sie irgendwie selbst nicht angehören. Selbst in Pflegeheimen kann es vorkommen, dass man sich weniger alt und bemitleidenswert vorkommt als die anderen. Nur wenn wir Schmerzen haben, kraftlos, allein oder verwirrt sind, tritt unser wahres Alter zum Vorschein und lässt unsere Schwächen bedrohlich werden. Unter ausreichend harten Bedingungen können sich Menschen bereits in den Vierzigern alt fühlen. Da die Lebenserwartung in Großbritannien zum ersten Mal seit Generationen sinkt, rückt das Alter, in dem wir vielleicht sterben werden oder gebrechlich sind, langsam immer näher. Vernachlässigt werden wir krepieren.

Eine meiner ersten Begegnungen mit dem ­hohen Alter hatte ich, als ich sehr jung war. Im Haus neben unserem in Dundee wohnte die auf ewig unverheiratete Miss Dickie. Sie war zu Zeiten auf meine Schule gegangen, als das für ein Mädchen noch keineswegs selbstverständlich war. Meine Mutter schickte mich immer rüber zu Miss Dickie. »Geh und leiste ihr Gesellschaft.« »Geh und hör dir ihre Geschichten an.« Damals war es in Großbritannien noch üblich, dass man sich um die Alten in den Gemeinden und Familien kümmerte und sie nicht in Heime abschob.

Miss Dickie war die Erste, mit der ich jemals Tee trank. Ich kann mich noch gut an meine Befangenheit gegenüber ihrem filigranen Geschirr erinnern: zerbrechliche Tassen, Untertassen und Teller. Wie schwer es war, ohne Tisch essen zu müssen und Tee zu mögen. Miss Dickie war irgendwann gegen Ende des 19. Jahrhunderts geboren worden und bewohnte die obere von den zwei Wohnungen, in die ihr Haus aufgeteilt worden war. Deutlich und mit Schadenfreude erinnerte sie sich an ihre Zeit als Suffragette, als sie aus Protest gegen die Entrechtung der Frauen Säure in Briefkästen gekippt hatte. Woher sie die Säure hatte, erklärte sie nie. In meiner Erinnerung ist sie nicht verwirrt oder gebrechlich, nur langsam und irgendwie märchenhaft, wie aus einer längst vergangenen Zeit. Ohne Kratzer hatte sie zwei Weltkriege überstanden.

Eines Tages sagte man mir, dass sie gestorben sei. Ich war nicht wirklich traurig, eher überrascht. Ihr hohes Alter hatte ich nie mit dem Tod assoziiert

Obwohl Dundee eine Hafenstadt ist, fielen dort nicht viele Bomben. Die arme Arbeiterschaft zog es jedoch traditionell zum Militär, zum schottischen Black Watch Regiment, zu dessen Uniformen Kilts gehörten. In Dundee war man daran gewöhnt, dass Männer nicht zurückkehrten, dass starke Frauen die Familien versorgten und in den Fabriken arbeiteten. Miss Dickie stand in dieser Tradition Zähigkeit, doch auch ihre Zeit ging natürlich irgendwann zu Ende. Eines Tages sagte man mir, dass sie gestorben sei. Ich war nicht wirklich traurig, eher überrascht. Ihr hohes Alter hatte ich nie mit dem Tod assoziiert. Andere Leute zogen in ihre Wohnung. Die besuchte ich nicht.

Meine Urgroßmutter mütterlicherseits war mit ihrem biblischen Alter für mich eine ebenso erstaunliche Erscheinung. Ich begegnete ihr im Haus meiner Tante. In Decken gewickelt ähnelte sie einem reptilischen Lebewesen. Sie war sich ihrer Umgebung offensichtlich wenig bewusst, zeigte jedoch noch ein lebhaftes Interesse an Pferderennen im Fernsehen. Im Arbeiterklassen-Haushalt meiner Tante in Staffordshire galt ihr anhaltendes Interesse an Pferdewetten als Triumph. Ich war mir nie sicher, ob sie wusste, wer ich war. Zum letzten Mal besuchte ich meine Urgroßmutter im Krankenhaus. Eine sterbende Viktorianerin. In meiner Erinnerung verlor sich ihr winziger Körper in einem eigenartig dichten, trüben Sauerstoffzelt. Man konnte sie fast nicht sehen. Obwohl ich dicht an ihr Bett trat, wirkte es, als wäre sie schon woanders, als umschlösse das Zelt schon ein Stück dessen, wo sie hingehen würde.

Mein Großvater blieb an der Wand der Krankenstation stehen, weit entfernt von ihrem angsteinflößenden Bett. Das war verwirrend für mich, denn ich hatte ihn noch nie anders erlebt als stoisch und stark und jetzt sah er vollkommen verzweifelt aus. Er sagte, er würde nicht näher kommen, er wolle sie nicht so in Erinnerung behalten. Erst Jahre später fand ich heraus, dass sein Vater ein Säufer gewesen war, der seine Ehefrau geschlagen hatte. Als Kind war mir noch nicht bewusst, dass mein Großvater seine ganze Jugend lang seinen Körper trainiert hatte, ein Boxer geworden war und abgewartet hatte bis zu jenem Tag, an dem er groß und stark genug war, um seinem Vater Einhalt zu gebieten. Er hatte immer für seine Mutter gekämpft und sie verteidigt. Auf dieser Krankenstation aber konnte er nichts mehr für sie tun.

Anders als meine Urgroßmutter kam mir meine drahtige, kokette, laut lachende Großmutter dagegen nie alt vor. Sie war eine Spezialistin für Schellackpolituren und ging erst mit über achtzig langsam in den Ruhestand über. Dann arbeitete sie ehrenamtlich in einem Wohltätigkeitsladen. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie immer Pläne geschmiedet, ein Unternehmen zu gründen. Als wir nach ihrem Tod ihre Sachen durchsahen, fanden mein Großvater und ich Prospekte der British Telecom über die Beauftragung von Geschäftsanschlüssen. Für einen Augenblick fühlten wir uns beide vor einem Abgrund der unerledigten Dinge schweben. Der erste Ehemann meiner Großmutter war schon Tage nach ihrer Hochzeit gestorben und so hatte sie sich einen auffällig gesund aussehenden, zehn Jahre jüngeren Mann als zweiten Ehemann gesucht, meinem Großvater. Dieser blieb natürlicherweise am Ende übrig.

Sein Körper hatte aus meinem Großvater einen alten Mann gemacht und ihn seiner Eleganz beraubt

In Sorge um sein schwaches Herz entschied er sich schließlich für ein Altersheim. Ich glaube, er wollte unter Menschen sein. Das war in den späten 1980er-Jahren, als es noch viele Betreuungseinrichtungen für ältere Menschen gab, die verschiedene Möglichkeiten der Unterstützung und Wahrung ihrer Würde boten. Sein Heim wirkte zwar stärker wie eine Einrichtung als andere, doch ich denke, es erinnerte ihn an seine Zeit als Lehrling. Es lag in seiner vertrauten Nachbarschaft und er konnte mit Männern, deren Kultur und Geschichte er teilte, seinen Spaß haben. Er brachte den Bewohnern Gedächtnistricks bei, die er sich als gerissener Kartenspieler beim Poker und Cribbage angeeignet hatte. Er flirtete ein wenig, doch der schmerzhafte Verlust seiner Frau ließ ihn nicht los. Er ging mit einem langen Regenschirm spazieren, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, er bräuchte einen Stock. Er gestand, dass er nicht deshalb innehielt, um in die Schaufenster zu schauen, sondern weil er so seine Beine ausruhen konnte. Irgendwann gelang es ihm nicht länger, der wilde Rentner zu sein, der Einbrecher k. o. schlug und dann mit kühlem Kopf die Polizei anrief. Sein Körper hatte aus ihm einen alten Mann gemacht und ihn seiner Eleganz beraubt. Unser Gesundheitswesen war damals bereits drauf und dran zusammenzubrechen. Mit wundgelegenen Stellen und unterernährt entließ ihn ein Krankenhaus nach Hause. Er brauchte Bluttransfusionen, doch die wurden rationiert. Ungefähr eine Woche lang ging es ihm gut, dann ließ die Wirkung wieder nach. Mein Großvater wusste, dass das staatliche Gesundheitssystem ihm dabei helfen würde, sich umzubringen.

Das letzte Mal, als wir uns trafen, schlug er mich beim Cribbage und spielte bis an die Grenze seines Könnens. Das hatte er nie getan, als er mich unterrichtete. Als Mittelgewichtsboxer und Ersthelfer in seiner Fabrik wusste er genau, was ein menschlicher Körper aushalten konnte. Er sagte mir, dass er sich einer Herzoperation unterziehen müsse und sich wünsche, auf dem Operationstisch zu sterben. Denn er würde danach nicht mehr der sein, der er war. Ich habe ihm wohl nicht richtig geglaubt und dennoch an diesem Tag so lange Fotos gemacht, bis man ihm ansehen konnte, dass es ihm unangenehm war. Als ich ihn draußen auf dem frostigen Bürgersteig zum Abschied küssen wollte, misslang die Geste, weil ich einen Hut trug. Das war der Verwandte, dem ich am nächsten war, den ich am meisten liebte – und wir verpatzten unseren letzten Kuss.

Die Operation hat ihn nicht umgebracht. Ein präoperativer Test ruinierte sein geschwächtes Herz. Das Verfahren hat den Ruf, den Tod gebrechlicher Patienten zu verursachen. Am Tag, als er starb, erreichte ich das Krankenhaus zu spät. Er wusste, dass ich unterwegs war. Sein Bruder war bei ihm. Ich hasse den Gedanken, dass das glückliche Aufflackern seines Herzens angesichts meiner nahenden Ankunft zu viel für ihn gewesen sein könnte. Wir haben uns geliebt.

Die persönlichen Dinge eines jeden Lebens reduzierten sich in den Heimen auf ein paar Gegenstände in einem kleinen Raum

Als Stipendiatin recherchierte ich zu dieser Zeit in Abteilungen für Sozialarbeit und in einem Behindertenhilfswerk. Ich verbrachte viele Stunden mit Gruppen von Überlebenden des Zweiten Weltkriegs, saß in ihren Schlaf- und Aufenthaltsräumen mit ihnen zusammen. Es gab damals bereits ein deutliches Gefälle zwischen guten und schlechten sozialen Einrichtungen. In den Einen gab es genießbares Essen, ansprechende Möbel und Aktivitäten. In den anderen stank es nach Kohl und menschlichen Ausscheidungen, quälende Schreie waren zu hören, einsame Menschen saßen mit Essensresten und Scheiße besudelt starrend und zitternd in Urinpfützen. Ich hörte ihnen zu, wie ich Miss Dickie zugehört hatte, ihren Geschichten, die ihre Persönlichkeiten erkennen ließen, so, wie sie Verwandten und Freunden einmal vertraut gewesen waren. Das Personal hatte oft keine Zeit zuzuhören. Sogar die freundlichen, sauberen Heime hatten wenig Privatsphäre und waren voller sterbender Menschen. Die persönlichen Dinge eines jeden Lebens reduzierten sich auf ein paar Gegenstände in einem kleinen Raum. In den schrecklichen Heimen fühlte sich jeder alt, ich eingeschlossen. Alle wollten nur noch raus, auch wenn der Tod der einzige Ausweg war.

Die Geschichten der Menschen dort – über Schönheit, Normalität, Humor, Freundlichkeit, Tapferkeit, Entschlossenheit, Verwirrung – sind meine Begleiter geblieben. Mit ihnen begann mein Widerwille gegen den Hurrapatriotismus, der sich in Großbritannien breitmacht, seit die Letzten der Kriegsgeneration verstummen. Anscheinend lieben wir unsere Alten, aber nicht genug, um sie anständig zu betreuen.

In den letzten Jahren habe ich mit angesehen, wie eine unabhängige, freche alte Dame zu einem ängstlichen, zerbrechlichen Gerippe wurde. Sie war meine Freundin und hatte Pech, erlitt einen Schlaganfall und stürzte, doch erst die mangelnde Nachsorge führte zu ihrem immer schlimmer werdenden Zustand. Nach guter anfänglicher Genesung kehrte sie zurück in ihre schöne Londoner Wohnung mit Blick auf den Hyde Park. Zwei private Firmen übernahmen die häusliche Pflege. Die unterbezahlten Pflegekräfte mit unmöglichen Dienstplänen erschienen nie pünktlich. Sie machte sich Sorgen, wann ihre Mahlzeiten kommen würden. Sie verlor an Gewicht. Sie wurde panisch. Mal wurde sie um 17 Uhr ins Bett gebracht, mal um 22 Uhr oder noch später. Eine nächtliche Betreuung war nicht verfügbar. Beschwerden wurden mit der nichtssagenden Bescheinigung beantwortet, dass alle Aufgaben erledigt worden seien, ohne Angabe von Uhrzeit oder Umfang. In der Erwartung einer angemessenen Pflege hatte meine Freundin ein Leben lang ihre Steuern gezahlt. Wie so viele andere ist sie betrogen worden. Oft allein und voller Angst hatte sie vermeidbare Stürze und weitere Schlaganfälle. Sie ist jetzt in einem Pflegeheim, das sie »um ihrer eigenen Sicherheit wegen« hasst. Sie sagt mir oft, dass sie sich jemanden herbeisehnt, der sie tötet. Durch die Umstände fühlt sie sich nicht nur alt, sie fühlt sich als Krüppel.

Die zum großen Teil privatisierten britischen Pflegeeinrichtungen brechen zusammen und bürden ihre alten Bewohner dem Staat auf. In den Nachrichten wird immer wieder von Misshandlungen berichtet – Menschen, die gewaltsam festgehalten werden, geschlagen oder ruhiggestellt. Alte Menschen können nur dann ihre Würde bewahren, Hoffnungen und Pläne schmieden, wenn sie in Gemeinschaften verwurzelt sind, beschäftigt sind und aktiv am Leben teilnehmen. So lassen sich die Symptome des Alters in Schach halten. Allein gelassen, werden die Senioren eins mit den Behinderten, den benachteiligten Kindern und den Armen, um deren Würde sich unsere Gesellschaft nicht länger bemüht, die ihr zur Last fallen und die sie nicht länger am Leben erhalten will.

Meine schöne Mutter, die alles liest, was sie in die Finger bekommt, die in ihrer Küche singt und tanzt, die vor lauter Freude weinen kann – sie wird für mich nie alt sein

Das Dorf meiner Mutter ist voller munterer Rentner. Hier und da überschreitet jemand die magische Schwelle von einhundert Lebensjahren, töpfert immer noch, ist involviert, plaudert, ist Mensch. Doch die Leute befürchten, dass ihre Krankenhäuser sie im Stich lassen werden, so, wie sie andere vor die Hunde gehen ließen. Sie befürchten, dass die einzige vorhandene Hausarztpraxis mehr an den Einnahmen interessiert sein könnte als an der medizinischen Versorgung. Die Menschen tauschen Geschichten aus über Patienten, die als genesen nach Hause geschickt wurden und tatsächlich im Sterben lagen. Sie sind besorgt, dass ihre staatlichen Renten nicht angepasst werden – im Durchschnitt 23 Prozent des Vorruhestandseinkommens. Trödelmärkte sind ebenso beliebt wie der Verkauf von hausgemachtem Gebäck oder billigen, unförmigen Eiern vom örtlichen Bauernhof.

Meine schöne Mutter, die alles liest, was sie in die Finger bekommt, die in ihrer Küche singt und tanzt und mit einer gebrochenen Hüfte zurechtkommt, meine Mutter, die vor lauter Freude weinen kann – sie wird für mich nie alt sein. Sie ist es aber. Ich hebe ihre Notizen und E-Mails auf und mache mich bereit. Ich versuche, die Grausamkeiten des Systems von ihr fernzuhalten, doch der Druck, der auf ihrer Umgebung lastet, zermürbt auch sie. Sie macht sich um die vielen Menschen, die offensichtlich Schmerzen haben, große Sorgen.

Ich gehe zum Sport. Vermutlich bin ich heute fitter als jemals zuvor. Ich bereite mich darauf vor, alt zu werden, wie schwer es auch sein wird. Ich mische mich unter die Märsche der Kinder, schaue in ihre Gesichter und sehe, wie sehr wir sie im Stich gelassen haben, dass sie schon so jung so alt sind.

Aus dem Englischen von Karola Klatt