Verhungernde Gletscher
Was das Schmelzen des Eises für den Wasserkreislauf der Erde bedeutet
Gebirge sind nicht nur beeindruckende Landschaftsformen, die zum Wandern und Skifahren einladen. Sie sind auch Heimat faszinierender Gebilde, die Erstaunen, Bewunderung und Ehrfurcht hervorrufen – der Gletscher. Doch so unvergänglich diese Eisriesen auch erscheinen mögen, sind die Gletscher seit Anfang des letzten Jahrhunderts dabei, viel von ihrer Mächtigkeit einzubüßen.
Auf einem vom Österreichischen Wissenschaftsfonds veranstalteten Science Festival in Wien vergangenen Sommer blieben viele Besucher im Pavillon der Gletscher- und Klimaforscher vor einer Zeitrafferaufnahme des noch größten Gletschers Österreichs, der Pasterze, stehen und murmelten „Traurig“, „Oh nein, so schlimm“ oder „Man mag überhaupt nicht hinschauen“. Was war der Grund für so viel Anteilnahme?
In dem Zeitraffer war die Pasterze über acht Monate zu sehen, von April bis Dezember 2016, und es wurde sichtbar, was dem bloßem Auge entgeht: Der Gletscher bewegt sich. Denn anders, als viele denken, sind Gletscher keine starren Gebilde. Gletschereis fließt unter dem Einfluss der Schwerkraft den Berg hinab. Weiter unten ist es wärmer als in den höheren Lagen und das Eis schmilzt. Ein völlig normaler Prozess, der erst einmal nichts mit dem Verschwinden der Gletscher aufgrund des Klimawandels zu tun hat. Die Bewegung erfolgt langsam: Die Pasterze bewegt sich durchschnittlich mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Metern pro Jahr und ist damit verglichen mit anderen Gletschern weder besonders schnell noch besonders langsam.
Solange ein Gletscher im oberen Teil, dem sogenannten Nähr- oder Akkumulationsgebiet, über das Jahr verteilt genauso viel Nahrung in Form von Schnee dazubekommt, wie im unteren Teil, dem Zehr- oder Ablationsgebiet, schmilzt, ist der Gletscher im Gleichgewicht. In der Realität ist ein exaktes Gleichgewicht nahezu nie der Fall, die Größe eines Gletschers fluktuiert von Jahr zu Jahr. In den vergangenen Jahrzehnten sind jedoch die meisten Gletscher kontinuierlich kleiner geworden, sie verlieren pro Jahr oft deutlich mehr Eis, als hinzukommt. Und genau diese Veränderung sieht man nicht nur als Alpenbewohner besonders deutlich. Weltweit dienen Gletscher schon lange als Paradebeispiel für die Auswirkungen des fortschreitenden Klimawandels mit beeindruckenden Belegen etwa beim Vergleich mit alten Fotografien.
Wo liegen jedoch die Gründe für die Gletscherschmelze – ist tatsächlich der Mensch dafür verantwortlich? Und beschränken sich die Auswirkungen der Gletscherschmelze auf ihre direkte Umgebung oder gibt es auch in weit entfernten Gebieten Grund zur Sorge?
Seit dem Ende der Kleinen Eiszeit um 1850 haben die Gletscher weltweit etwa ein Fünftel ihres Volumens verloren. Wenn man nach Ursachen sucht, denkt man schnell an die vom Menschen ausgelöste Erderwärmung. Mithilfe von Computersimulationen zeigten Forscher der Universität Innsbruck jedoch, dass lediglich rund ein Viertel der Gletscherschmelze im Zeitraum von 1850 bis 2010 vom Menschen verursacht wurde. Doch das ist kein Grund zum Aufatmen: Denn der von uns Menschen verursachte Anteil ändert sich gerade stark. War der Einfluss Mitte des 19.?Jahrhunderts noch kaum spürbar, so stieg er in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf über zwei Drittel der Gletscherschmelze an.
Dieser Trend wird sich fortsetzen, denn Gletscher reagieren sehr langsam auf Klimaveränderungen. Ähnlich wie am Ende der Kleinen Eiszeit sind sie im Moment eigentlich zu groß für das vorherrschende Klima: Sie kommen mit dem Schmelzen den stetig steigenden Temperaturen quasi nicht hinterher. Ihr Zehrgebiet ist deutlich größer als ihr Nährgebiet – sie „(ver)hungern“. Indem sie sich in kältere Regionen zurückziehen, werden sie kleiner und erreichen ein neues Gleichgewicht. Zumindest theoretisch, denn der fortschreitende Temperaturanstieg führt dazu, dass das Gleichgewicht eben nicht erreicht wird. Forscher der Universität Bremen rechneten kürzlich aus, dass 36 Prozent des heute in Gletschern gespeicherten Eises in den nächsten Jahren schmelzen wird, um ein neues Gleichgewicht mit dem aktuellen Klima zu erlangen. Das heißt, dass die Emissionen der Vergangenheit den Gletscherschwund in den nächsten Jahrzehnten mitbestimmen. Selbst ohne weitere Treibhausgasemissionen ist also etwa ein Drittel des Gletschereises dem Untergang geweiht.
Noch düsterer sieht es laut einer von Genfer Forschern geleiteten Studie aus, wenn der zu erwartende Treibhausgasausstoß in den nächsten Jahrzehnten berücksichtigt wird. Dann werden bis zum Jahr 2100 zwischen 76 und 97 Prozent des Eisvolumens in den europäischen Alpen verschwunden sein. In anderen Regionen, wie zum Beispiel dem Himalaja in Zentralasien, fallen diese Zahlen etwas geringer aus, da die Gletscher dort größer sind und die Möglichkeit haben, sich in höhere Regionen zurückzuziehen und dort zu überleben.
Gletscher haben sich im Laufe der Erdgeschichte immer wieder gebildet und sind auch wieder abgeschmolzen. In unmittelbarer Umgebung der schmelzenden Gletscher entsteht eine neue Landschaft, die auch ins Gleichgewicht finden muss. Das schwindende Eis hinterlässt teils brüchigen Fels und lockeres Gestein, wodurch Steinschläge, Hangrutschungen und Geröll- und Schuttlawinen zunehmen. Seen formen sich, neue Ökosysteme bilden sich. Viele Auswirkungen sind lokal sehr verschieden und Gegenstand intensiver Untersuchungen.
Eine wichtige Gletscherfunktion ist die eines regionalen Wasserspeichers und -lieferanten, hauptsächlich während trockener Perioden. Selbst mehrmonatige Trockenzeiten im Bereich der äußeren Tropen können durch die Gletscherschmelze überbrückt werden. Damit sind Gletscher regional für Landwirtschaft, Wasserkraft und Bewässerung von sozioökonomischer Bedeutung. Schmilzt ein Gletscher ab, ist die verfügbare Wassermenge durch das erhöhte Schmelzwasseraufkommen zwar kurzzeitig erhöht, auf lange Sicht ist jedoch eine Grundlage der regionalen Wasserversorgung bedroht. Dies trifft besonders auf Gebiete in den südamerikanischen Anden und im Himalaja zu.
Gerade letztere Region wird oft als Wasserturm Asiens bezeichnet. Die Region umfasst die Einzugsgebiete großer Flüsse wie Ganges, Brahmaputra und Indus, die über eine halbe Milliarde Menschen mit Wasser versorgen. Unser Verständnis darüber, wie sich Veränderungen der Gletscher auf deren Wasserhaushalt auswirken, ist jedoch nach wie vor begrenzt. Denn nicht nur die Gletscher sind in dieser Region von Bedeutung, sondern ebenso veränderte Niederschlagsmuster (man denke nur an den regenreichen Monsun) und die jahreszeitlich bedingte Schneeschmelze. Im Übrigen stellt die oben schon erwähnte Bildung neuer Seen eine ernst zu nehmende Gefahr dar: Wird eine bestimmte Schwelle überschritten, kann es zu einer abrupten und unkontrollierten Entleerung dieser sogenannten proglazialen Seen kommen, durch die flussabwärts immense Schäden angerichtet werden.
Die Folgen der Gletscherschmelze sind aber nicht nur lokal und regional von Bedeutung. Auf globaler Ebene führt sie zum Anstieg des Meeresspiegels. Mindestens sieben Zentimeter haben die uns bekannten Gletscher im 20. Jahrhundert zum Anstieg des Meeresspiegels beigetragen und stellen damit zusammen mit der Ausdehnung des Meerwassers den größten Beitrag zum gesamten Anstieg. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich das Kräfteverhältnis leicht verschoben. Die riesigen Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis sind dabei, den Gletschern den Rang streitig zu machen. Bis zu 66?Meter Meeresspiegelanstieg könnte das Abschmelzen des grönländischen und antarktischen Eises zusammen ausmachen und scheint somit die durch die fortschreitende Gletscherschmelze noch möglichen dreißig Zentimeter verblassen zu lassen. Allerdings reagieren die Gletscher viel schneller als die Eisschilde auf Grönland und in der Antarktis und bleiben daher mit ihren Beiträgen zum Meeresspiegelanstieg in den nächsten Jahrzehnten von Bedeutung.
Am meisten tragen die Gletscher im hohen Norden und in der Arktis zum Meeresspiegelanstieg bei. Kein Wunder, dort sind die Gletscher am größten. Erstaunlicherweise sinkt jedoch der Meeresspiegel in diesen Gebieten stark ab. Im Gegensatz dazu steigt er überproportional in von diesen Gletschern weit entfernten Gebieten auf der Südhalbkugel und in den Tropen. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen hebt sich das vergletscherte Land langsam an, wenn es von der Last des schweren Eises befreit wird. Einem Bewohner vor Ort kommt es also so vor, als würde der Meeresspiegel sinken. Tatsächlich ist es jedoch das Land, welches sich anhebt. Zum anderen üben die riesigen Eismassen eine Anziehungskraft auf alles in ihrer Umgebung aus, also auch auf das Wasser im Meer. Das führt dazu, dass der Meeresspiegel entlang eisbedeckter Küsten etwas höher ist, als er es ohne das Eis wäre. Schrumpft nun die Eismasse, sinkt auch seine Anziehungskraft und damit der Meeresspiegel. Da sich das Meerwasser nicht in Luft auflöst, steigt der Meeresspiegel weit entfernt von den Eismassen an. Die Leidtragenden sind tief liegende tropische Inseln und Küstenstaaten – die bekommen die weit entfernte Schmelze der Gletscher (und Eisschilde) mit überdurchschnittlicher Wucht zu spüren.
Die vielfältigen reellen Schäden schmelzender Gletscher sind schwer genug zu beziffern, der ideelle Wert ist jedoch unschätzbar. Denn mit den Gletschern verschwindet eine einzigartige Landschaftsform.