Kein Raum für Roma

Das historische Viertel Sulukule war einer der ersten Stadtteile Istanbuls, die dem Bauboom zum Opfer fielen

An »Sükrüs Kaffeehaus« erinnert heute nichts mehr im  Istanbuler Viertel Sulukule. Bis zu seinem Abriss hing darin das Foto eines Mannes mit gezwirbeltem Schnauzer und Gebetskette in der Hand, des Großvaters des Inhabers Sükrü Pündük. Drei Generationen lang gehörte das Lokal der Familie. Sükrü Pündük kämpfte als Vorsitzender des Roma-Vereins von Sulukule vergebens gegen den Abriss des Viertels. Heute stehen hier Luxusapartments, in denen neue Eigentümer wohnen.

Sulukule galt als älteste türkische Roma-Siedlung. Das Viertel war eines der ersten, das von der rigorosen Modernisierungspolitik unter Recep Tayyip Erdogan heimgesucht wurde, der damals noch Ministerpräsident war.  Inzwischen finden sich in den türkischen Medien täglich Artikel über die sogenannte »urbane Transformation«. 2005  nahm sie ihren Anfang, als die staatliche Wohnbaugesellschaft TOKI umstrukturiert und neue Gesetze verabschiedet wurden. Städte sollten  in »mega-globalisierte« Städte verwandelt, Prestigeprojekte umgesetzt und die Gentrifizierung vorangetrieben werden. Heute werden innerstädtische Gebiete komplett abgerissen und die bisherigen Einwohner, oft Eigentümer der Häuser, in Randgebiete vertrieben. Am stärksten betroffen sind die ärmsten Bevölkerungsgruppen: Roma, Migranten, Geflüchtete. Nach Angaben der Immobilienbank JLL stehen in der Türkei auf 12,6 Millionen Quadratmetern insgesamt 412 Einkaufszentren. Allein in Istanbul gibt es demnach bereits 119 dieser Malls – weitere 16 werden derzeit gebaut. Die Kammer der Bauingenieure der ­Türkei konkretisiert, wo genau die Malls gebaut werden: auf Plätzen, die im stark erdbebengefährdeten Istanbul im Falle eines Bebens als Sammelpätze vorgesehen waren. Drei Viertel dieser 493 Sammelplätze sind mittlerweile verbaut, nicht nur mit Malls, auch Hochhäuser und Residenzen finden sich dort heute.

Sulukule wurde in byzantinischer Zeit erbaut. Es lag innerhalb der Theodosianischen Mauer, der Befestigungsanlage zum Schutz Konstantinopels.  In osmanischen Dokumenten wird Sulukule als Ort für Wahrsagerei, Kaffeesatzlesen und Tanzbärdressur erwähnt, als Zentrum für Musik und Tanz. Für junge Romafrauen war Tanz eines der wichtigsten Berufsfelder. In den von Roma geführten Vergnügungswirtschaften bekamen die Gäste zu einem festen Pauschalpreis ein kleines Glas Raki mit Meze und Obst serviert, während sie den Darbietungen zusahen. Nirgendwo sonst gab es solche meist familiengeführten Lokale, die ihr eigenes Repertoire an Roma-Liedern zum Besten gaben. Tatsächlich genossen diese Lieder einen internationalen Ruf, der teilweise bis heute anhält.

Seine goldenen Jahre erlebte das Viertel in den 1950er- und 1960er-Jahren. Für Istanbul-Touristen war ein Besuch in Sulukule Pflicht. Der James-Bond-Film »Liebesgrüße aus Moskau« (1963) wurde dort gedreht. ­Viele Roma-Familen in Sulukule konnten Grundbucheinträge vorweisen, die bis in die Zeit des osmanischen Reiches zurückreichten und die Kontinuität der Besiedlungsstruktur sowie der kulturellen Eigenheit belegen. Bis 1990 waren die Vergnügungsbetriebe die wichtigste Einkommensquelle der Gegend. In jenem Jahr wurde ­Saadettin Tantan Chef der polizeilichen Aufsichtsbehörde für Istanbul und begann mit seiner Politik der Razzien in den Vergnügungswirtschaften. Er ließ Straßenkinder und Transsexuelle festnehmen und mit dicken Wasserschläuchen auspeitschen. Unter der Repression mussten alle Vergnügungsbetriebe im Viertel schließen und der Verfall begann. Armut und Arbeitslosigkeit nahmen zu, die Musik verstummte. Die ehemaligen Lokale wurden an einkommensschwache Familien vermietet oder zur Tierhaltung umgenutzt. Die ehemaligen Musiker begannen, als Straßenverkäufer ihren Unterhalt zu fristen.

2006 beschloss das türkische Kabinett eine »sofortige Überführung des Viertels in öffentliches Eigentum«, also die Konfiszierung des Eigentums der Bewohner. Die Erlöse aus der Veräußerung der Immobilien sollten bei einer Bank hinterlegt werden. Das klang für viele Eigentümer wie eine Drohung, die meisten hatten keine Bankkonten und keine Möglichkeit, eines zu eröffnen. Diese Zwangslage, in der ein Großteil der Eigentümer ihre Immobilien möglichst schnell verkaufen wollte, um nicht ganz leer auszugehen, zog Spekulanten an. Sie kauften von den Roma rasch zu niedrigen Preisen und verkauften zu sehr viel höheren Preisen.

Um die »sofortige Überführung« zu stoppen, gründete sich der Roma-Verein Sulukule, der gemeinsam mit einem Bündnis aus Aktivisten, Architekten und Studierenden 2006 vor Gericht ging. Das zuständige Kassationsgericht wies die Klage auf einstweilige Verfügung ab. Somit war der Weg frei, die Grundstücke und Häuser aller Familien zu enteignen. Dutzende Pressekonferenzen wurden abgehalten, landesweite und internationale Kampagnen organisiert, um all dies zu verhindern. Zudem gründeten sich unter Beteiligung vieler Studierenden und Dozenten zweier Istanbuler Universitäten die »Autonomen Stadtplaner ohne Grenzen« mit Akronym »STOP«. Sie erstellten einen alternativen Plan zur wirtschaftlichen Entwicklung mitsamt Strategien zur zukünftigen Raumnutzung, den sie 2008 der Öffentlichkeit vorstellten. STOP entwickelte gemeinsam mit den Roma von Sulukule ein alternatives Projekt, das allerdings vom Bezirksamt abgelehnt wurde. Zwischen 2007 und 2010 wurden mehr als 300 Häuser abgerissen, nur wenige wurden unter Denkmalschutz gestellt und gerettet. Weltweite Proteste und auch eine Warnung der UNESCO führten zu nichts. Insgesamt wurden 5.000 Menschen vertrieben, davon rund 3.500 Roma. Das Stadtviertel wurde zerstört.

Der Roma-Verein Sulukule und das Bündnis Sulukule kämpfen heute auf anderem Weg weiter. Das Istanbuler Verwaltungsgericht hat die Baumaßnahmen im Nachhinein für unrechtmäßig erklärt, aber die ehemaligen Bewohner leben jetzt anderswo, viele haben ihre neuen Wohnungen verloren, weil sie die Mieten nicht zahlen konnten. Manche sind mehrfach umgezogen, andere sind obdachlos geworden. Die meisten schlagen sich als Straßenverkäufer durch. In den Luxusapartments leben andere.  

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny