Illusionslose Härte
Masha Gessen zeichnet in ihrem Buch »Die Zukunft ist Geschichte« das beklemmende Bild eines Russlands, das sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht abfinden kann. Ihr auf Interviews und Dokumenten beruhender »faktografischer Roman« erzählt die Geschichte dreier Generationen und ist zugleich eine sozialpsychologische Analyse des Erbes der Sowjetzeit
Als ich dieses tiefernste Buch zu Ende gelesen hatte, kam mir, rein assoziativ, ein Gedicht Ossip Mandelstams in den Sinn, übersetzt von Paul Celan, geschrieben 1921, am Ende des verheerenden Bürgerkriegs, lange bevor Mandelstam 1937 in den Tiefen eines Stalin’schen Gulags verschwand: »Sternensalz, im Faß zergehend. / Wasser, kalt, muss schwärzer werden. / Reiner nun der Tod und salziger das Elend, / wahrer, furchtbarer die Erde.«
Wenn das in seiner poetischen Haltung und Metaphorik »sehr russisch« klingt, dann allerdings nicht im Sinne des sentimentalen Klischees, dass Leiden veredelt; eher umgekehrt: dass die »Schwärze«, die Kälte, das Elend den Blick klarer, unbestechlicher machen. Gerade unter dem oft unerträglichen und unmenschlichen Druck, der von den eigenen Machthabern ausging, ist ja ein Gutteil dessen entstanden, was die russische Literatur und Kunst in den vergangenen Jahrhunderten so menschlich reich gemacht hat. Wo anders hätte ein Dichter in Erwartung seiner Verhaftung seiner Frau sagen können wie Mandelstam 1934: »Gräme dich nicht. Nur bei uns schätzt man die Literatur so, dass man für einen Vers erschossen werden kann.«
Zwar ist Russland nicht dabei, in diese Vergangenheiten zurückzufallen, zumindest nicht in ihre blutigen Extreme. Aber es steht, wie Masha Gessen in »Die Zukunft ist Geschichte« eindringlich beschreibt, verstärkt wieder in ihrem Bann und laboriert an ihren mentalen und sozialen Folgen. Wieder ist man versucht, die illusionslose und umso schmerzlichere Härte, mit der die Autorin vom Land ihrer Herkunft und frühen Kindheit ein zweites Mal Abschied nimmt, für »sehr russisch« zu halten. Und das gilt auch oder gerade, weil sie als jüdische, lesbische Frau mit drei Kindern den neuen Hütern eines wahren Russentums als der Inbegriff eines fremden, volksvergiftenden Wesens erscheint. 2013 floh sie wegen der akuten Gefahr, dass man ihr die Kinder wegnehmen werde, in die USA zurück.
Ihr Buch ist, wie sie selbst es nennt, ein »faktografischer Roman«, der die dramatischen Umbrüche beschreibt, die Russland in den letzten drei Jahrzehnten durchlaufen hat, erzählt aus der Perspektive von vier jungen Leuten, die alle um das Jahr 1984 herum geboren und im nachsowjetischen Russland aufgewachsen sind. Dabei erzeugt die Verwendung von Kosenamen für die vier jugendlichen Protagonisten (Mascha und Shanna, Ljoscha und Serjosha), während ihre Eltern mit Vornamen genannt werden und die Großeltern mit familiären Vor- und Vatersnamen (wie Alexander Nikolajewitsch) das Flair eines vielstimmigen und gelegentlich verwirrenden Familienromans in russischer Tradition. So gehören zu den weiteren Hauptpersonen der von Gorbatschow zum Chefarchitekten der »Perestrojka« ernannte und später verstoßene Alexander Nikolajewitsch Jakowlew, der Großvater von Serjosha; sowie Boris Nemzow, der Vater von Shanna, der einer der führenden Reformer der Jelzin-Zeit und hartnäckigsten Oppositionellen der Putin-Ära war, bevor er im Februar 2015 von einem tschetschenischen Killerkommando unter den Mauern des Kreml ermordet wurde. Auf diesen emblematischen Tod läuft das Buch am Ende zu.
Die reflexive Zwischenebene wird durch eine weitere Figurengruppe gebildet. Da ist die Psychologin Marina Arutjanjan, die an der Wiederbegründung einer psychoanalytischen Tradition in Russland mitgewirkt hat; und der Soziologe Lew Gudkow, der als Schüler des Pioniers Juri Lewada die Instrumente einer modernen, wissenschaftlich informierten Demoskopie mitgeschaffen hat. Im Zentrum der Forschungen ihres ursprünglich staatlich unterstützten, dann enteigneten und inzwischen als »ausländische Agentur« gebrandmarkten Instituts standen und stehen die psychischen Folgen und mentalen Reste einer totalitären und posttotalitären Gesellschaftsgeschichte, die von Lewada in der hypothetischen Gestalt eines »Homo Sovieticus« zusammengefasst wurden.
Sie alle stehen für die hartnäckigen, manchmal fast heroischen Versuche in nachsowjetischer Zeit, den ungeheuren Wissens- und Weltverlust auszugleichen, der allein schon in der systematischen Erstickung der durchaus lebendigen sozialwissenschaftlichen, historischen und philosophischen Traditionen unter dem Diktat des offiziellen Marxismus-Leninismus lag. Jakowlew hielt es in der Zeit von »Glasnost« für dringend geboten, in Form groß angelegter Editionen alles das wieder zugänglich zu machen, was für Jahrzehnte in »Giftschränken« verschwunden und allenfalls in Exilverlagen im Westen noch verfügbar war.
Die Gegenfigur zu ihnen allen liefert der Philosoph Alexander Dugin. Ursprünglich stammte auch er aus der Dissidentenszene und war einer von denen, die sich ohne Rücksicht auf Karriereziele den Zugang zu verbotenen Autoren verschafften, so zu Heideggers »Sein und Zeit«, das er mittels eines illegal angefertigten Mikrofilms auf seine Tischplatte projizierte. Aber in den 1990er-Jahren war Dugin mit Dostojewski-Bart bereits zum Vordenker einer erst nationalbolschewistischen, dann eurasischen Neuen Rechten geworden. Seit den 2000er-Jahren ist er zum staatlich gepäppelten Vordenker einer völkisch-großrussischen Expansionspolitik aufgestiegen, als deren erste Voraussetzung er die »Vernichtung« aller Vertreter eines westlich-kosmopolitischen Universalismus verlangt.
So musste Nemzow, der auf Riesenplakaten an Moskauer Häusern bereits als »Landesverräter« gebrandmarkt war, einen fast vorhersehbaren Tod sterben: Er hatte die massive Korruption der engsten Kreml-Familie aus den für die Olympiade in Sotschi eingesetzten Staatsfonds enthüllt und Beweise für die Beteiligung der regulären russischen Armee am Krieg in der Ostukraine angekündigt.
Kaum weniger beklemmend ist das Schicksal eines der jungen Helden des Buchs, Ljoscha, der irgendwann in den späten 1990er-Jahren als Schüler seine homosexuellen Neigungen entdeckt, sie mit einigen Ängsten auch vorsichtig lebt und schließlich zum Gegenstand seiner wissenschaftlichen Arbeit macht. Anfangs geht alles gut, seine Familie und die Freunde halten zu ihm, er kann unter Titeln wie »Sexuelle Minderheiten und russische Öffentlichkeit« an der liberalen Universität in Perm unterrichten und an internationalen Konferenzen teilnehmen. Aber dann, im Umfeld der wachsenden inneren Unruhe am Anfang der 2010er-Jahre, als es in Moskau und vielen Städten zu großen Demonstrationen gegen den gezinkten Machttausch von Medwedew zurück zu Putin kommt, beginnt sich plötzlich ein Netz um Ljoscha zuzuziehen. Auf Internetseiten wird zur »Jagd auf Päderasten« aufgerufen, und Videos zeigen die brutale Misshandlung und Demütigung homosexueller Männer, die Ljoscha in seiner Stadt kennt. Und unter denen, die sich unvermummt, ohne Strafe zu fürchten, an diesen Jagden beteiligen, erkennt er ehemalige Teilnehmer seiner Seminare. Er muss fort.
Dabei hatte sich doch in den Umfragen des Lewada-Instituts in den ersten Putin-Jahren eine allmählich wachsende Toleranz angedeutet. Zwar gab es immer noch einen schockierend großen Teil der Befragten, die »abweichende Gruppen« jeder Sorte »liquidieren« wollten; aber diese Werte waren langsam zurückgegangen – mit dem Schönheitsfehler, dass die Popularität Stalins zunahm, bis er sogar bei Fragen nach der »bedeutendsten Persönlichkeit aller Zeiten« auf dem ersten Platz rangierte.
Aber dann kamen eben die Demonstrationen, die das Bild einer »Farbenrevolution« auch in Russland an die Wand malten, und dann der Krieg gegen die Ukraine, der mit der Annexion der Krim ja nur eröffnet wurde. Und nicht nur in den Artikeln und Auftritten Dugins, sondern auch in den Reden Putins selbst wurden die »Länder des euroatlantischen Raums« nun beschuldigt, Russland und der ganzen Welt ein Lebensmodell aufzwingen zu wollen, worin »jegliche Form traditioneller Identität, ob national, kulturell, religiös oder sogar geschlechtlich« abgelehnt werde. Russland sei berufen, diesen Tendenzen des sittlichen, staatlichen und demografischen Verfalls auf der weltpolitischen Bühne entgegenzutreten.
Dass der 2013 mit voller Wucht eröffnete Kampf gegen »pädophile Propaganda« (die mit offen gelebter Homosexualität gleichgesetzt wird) in Gessens Erzählung eine so prominente Stellung einnimmt, hat natürlich mit ihren eigenen Erfahrungen zu tun; aber nicht nur: Tatsächlich firmiert dieses Thema in der staatlichen Binnenpropaganda, und selbst in der Außenpropaganda gegen »Gayropa«, zunehmend als eine Art Marker für alles, was Russland »aufgezwungen« werden solle – um es in den demografischen Untergang und geopolitischen Zerfall zu treiben.
Gessen ist weit davon entfernt, das Wiedereinschwenken ihres Heimatlandes in einen nur zu bekannten Zirkel autokratischer Unterwerfung, paranoider Selbsteinschließung und ideologischer Selbstbeauftragung allein auf das dunkle Genie eines Wladimir Putin zurückzuführen. Im Gegenteil: Die phänomenale Explosion seiner »Unterstützung« auf über achtzig Prozent, kaum dass der kleine, blasse, völlig unbekannte KGB-Offizier 1999 an der Seite des bärenhaften Jelzin aus den Kulissen getreten war, verdankte sich womöglich gerade seiner Durchschnittlichkeit und Undurchdringlichkeit. Und jedes zeitweilige Absinken hat er mit einer kalkulierten inneren oder äußeren Aggression fast mühelos wieder auf die alte, sowjetisch anmutende Höhe einer fiktiven Einmütigkeit treiben können – bis heute.
Putin ist also nicht die Antwort, sondern die Frage – die eine historische und mentale Leerstelle deckt. Um sie kreist Gessens eher leidenschaftlich anteilnehmendes als anklagendes Buch.
Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor. Von Masha Gessen. Suhrkamp, Berlin, 2018.