Herkunft als Verbrechen
Was heißt es, fremd im eigenen Land zu sein? John Okada und Min Jin Lee erzählen in ihren Romanen eindrucksvoll davon
„Ich bin nach Amerika gegangen, um reich zu werden, damit ich, wenn ich in mein Dorf in Japan zurückkehre, etwas darstelle. Ich war gierig und ehrgeizig und stolz. Ich war kein guter oder kluger Mensch, sondern ein Dummkopf. Und du hast dafür bezahlt.“ Kopfschüttelnd sitzt ein Vater vor seinem Sohn, der im wahrsten Sinne des Wortes stückweise stirbt. Die Kriegswunde, die er sich im Kampf gegen das faschistische Japan zugezogen hat, will nicht heilen. Stück für Stück müssen ihm die Ärzte sein Bein abnehmen, bis Kenji Kanno schließlich einer Infektion des Stumpfes erliegt.
Der Mittzwanziger ist einer von drei Protagonisten, die am Ende von John Okadas meisterhaftem Roman „No-No Boy“ ums Leben gekommen sein werden. Dabei hat er aus Sicht seines Freundes Ichiro Yamada, eines anderen Protagonisten der Geschichte, alles richtig gemacht. Denn im Gegensatz zu diesem hat er Amerika gedient und sich damit die Grundlage einer Zukunft geschaffen. Einer Zukunft, von der ihm nun nichts mehr bleibt.
Vom Schicksal der japanischen Amerikaner weiß man wenig. Nach dem Angriff der japanischen Luftwaffe auf Pearl Harbor schuf Präsident Franklin D. Roosevelt die Grundlagen dafür, alle an der Westküste lebenden japanischen Amerikaner in Internierungslagern festzuhalten. Die männlichen Gefangenen sollten sich für den Militärdienst melden und gegen das Land ihrer Eltern in den Krieg ziehen.
Ichiro wurde vier Jahre lang inhaftiert, weil er sich weigerte, für die Amerikaner gegen Japan zu kämpfen. Zur Verweigerung des Militärdienstes gesellt sich aber auch seine Ablehnung Japans, weshalb er als „No-No Boy“ in die amerikanische Nachkriegsgesellschaft zurückkommt, um dort irgendwie neu anzufangen. Okadas allwissender Erzähler beschreibt die Eindrücke und Erlebnisse von Ichiro, seiner Familie, von Freunden und Bekannten in den Tagen nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis.
Dabei wird das gesamte Dilemma der japanischen Amerikaner aufgefächert. Denn wie sollte Ichiro etwa potenziellen Arbeitgebern Auskunft über seinen fehlenden Patriotismus geben? „Keine noch so große Lüge konnte seinen Riesenfehler kaschieren.“
Okadas meisterhafter Roman, von Susann Urban wunderbar ins Deutsche übertragen, ist in einer gleichermaßen bildreichen wie klaren Sprache verfasst. Die New York Times verglich »No-No Boy« sogar mit den Werken von James Baldwin. Und wie Baldwin hält uns Okada existenziell Menschliches vor Augen.
Verzweifelt wirft Ichiro der Generation seiner Eltern vor, ihm und seinesgleichen ein Leben in den USA verbaut zu haben, weil sie selbst „nach fünfunddreißig Jahren in einem Amerika, das sie so vehement ablehnten, als hätten sie Japan keine Sekunde verlassen, japanisch sahen, fühlten und dachten“ – und genau das auch von ihren Kindern erwarteten. Und während Ichiros fanatische Mutter immer noch auf den Sieg Japans wartet, trinkt sich sein Vater die hässliche Wirklichkeit schön.
Nichts wie weg hier, denkt sich Ichiro und begibt sich auf eine Reise, bei der er Kenji kennenlernt und damit erstmals jemanden, der einen anderen Weg als er gegangen ist. Erst hier begreift er, dass es kein Richtig und kein Falsch für seine Generation gibt. Über Kenji lernt Ichiro die junge Emi kennen, deren Mann lieber ein zweites Mal in den Krieg gezogen ist, als bei ihr zu bleiben.
Sie kommen sich näher und Emi wird seine Vertraute. Nachkomme japanischer Einwanderer in den USA zu sein, erklärt sie, ist eine Bürde, „weil wir Amerikaner sind und weil wir Japaner sind, und manchmal verträgt sich beides nicht, das ist der Grund. Wenn man Deutscher und Amerikaner ist oder Italiener und Amerikaner oder Russe und Amerikaner, ist das okay, aber wenn man Japaner und Amerikaner war, war das nicht okay, wie sich herausgestellt hat. Man müsste entweder das eine oder das andere sein.“
Identitätssuche in der fremden Heimat – während Okada über Japaner in den USA schreibt, widmet sich Min Jin Lees Roman dem Fremdsein in Japan. Die in Südkorea geborene amerikanische Autorin erzählt in ihrem Generationenroman „Ein einfaches Leben“ ebenfalls davon, was es heißt, die eine oder andere Identität haben zu müssen. Im Gegensatz zu Okada nimmt sie dabei nicht nur wenige Tage in den Blick, sondern schlägt in drei Büchern einen Bogen vom Jahr 1910 bis ins Jahr 1989, um die schicksalhaften Wendungen im Leben einer südkoreanischen Familie über vier Generationen hinweg zu beschreiben.
Das erste Buch nimmt die Zeit der Kolonialisierung Koreas durch Japan in den Blick. Wir lernen die fleißige Yangjin kennen, die mit dem Hinkefuß Hoomie die gemeinsame Tochter Sunja bekommt. Sie trifft als junges Mädchen den mächtigen Fischgroßhändler Koh Hansu, der sich ihr erst brüderlich nähert und sie schließlich schwängert. Doch Hansu hat bereits in Japan eine Familie, weshalb sich Sunja von ihm lösen muss, um keine Schande über ihre Familie zu bringen. Isak, ein christlicher Vikar, erbarmt sich ihrer und heiratet sie, noch bevor der mit dem Geschäftsmann gezeugte Sohn zur Welt kommt. Der Roman folgt der Familie nach Japan, wo sie versucht, neu anzufangen.
Zwei weitere Generationen werden geboren und die Handlung dreht sich schließlich um die Frage, wie sehr den in Japan geborenen Söhnen südkoreanischer Einwanderer ein normaler Alltag möglich sein wird. Hier schwingt sich der von Susanne Höbel übersetzte Roman zu einer Art »Great Korean Novel« hinauf, in der kollektive Erfahrungen wie die Diskriminierung der koreanischstämmigen Bevölkerung in Japan ebenso wie individuelle Schicksalsschläge zu einem packenden Epos verarbeitet werden. Alkoholismus, Prostitution, Missbrauchserfahrung und Tod, aber auch Emanzipation und Ehrgeiz (das anrüchige Geschäft mit Pachinko-Spielautomaten spielt eine besondere Rolle) tragen zu den Wendungen in dieser packenden Erzählung bei.
„In Japan bist du entweder ein reicher Koreaner oder ein armer Koreaner, und wenn du ein reicher Koreaner bist, dann gibt es irgendwo im Hintergrund ein Pachinko-Lokal“, erfährt Solomon, dessen Eltern bereits in Japan geboren und aufgewachsen sind, von seinem japanischen Chef.
Der nie ablegbare Nimbus der südkoreanischen Japaner zieht sich wie ein roter Faden bei allen Figuren durch die Geschichte. Ganz egal, wie sehr sie sich verdient machen und integrieren, ihre Herkunft klebt wie ein Verbrechen an ihnen. Sie bleiben die Vaterlandsverräter hier und »die stinkenden und hässlichen Ausländer« da, so Sunjas Sohn Mozasu. »In Seoul werden solche wie ich japanische Bastarde genannt, und in Japan bin ich immer wieder ein schmutziger Koreaner, egal, wie viel Geld ich verdiene oder wie nett ich bin.«
Min Jin Lee hat es mit ihrem epischen Werk auf die Shortlist des National Book Award geschafft, vor allem weil es ihr gelingt, das entbehrungsreiche Leben und die alltäglichen Kämpfe der südkoreanischen Japaner in all ihrer Vielfalt eindrucksvoll zu beschreiben. Das ist keine hohe, aber verdammt gute, engagierte und lehrreiche Literatur.
So unterschiedlich beide Romane in Anlage und Erzählweise sind, so universell und aktuell sind sie. Sie füllen nicht nur die weißen Flecken unseres Bewusstseins über diese Zustände, sondern zeigen darüber hinaus, was es heißt, mehrere Identitäten in sich zu tragen und doch nirgendwo zuhause zu sein. Diese existenzielle Erfahrung teilen Millionen Menschen weltweit. Wenn wir etwas aus diesen Romanen lernen können, dann dass es an jedem von uns ist, dass diese Menschen in den Aufnahmegesellschaften heimisch werden können.
No-No Boy. Von John Okada. Aus dem Amerikanischen von Susann Urban. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt/Main, 2018.
Ein einfaches Leben. Von Min Jin Lee. Aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel. dtv, München, 2018.