Heimisch und rein
Nur wenige Dinge prägen unser Verständnis von Identität und Zugehörigkeit so sehr wie das Essen. Welche Gerichte wählen wir aus, welche meiden wir – und warum?
Vor einiger Zeit habe ich ein Kochbuch über die bosnische Küche ausgeliehen bekommen. Ein kleiner Verlag hatte sich viel Mühe gegeben, die Küche Bosniens kulturhistorisch und authentisch zu präsentieren. Nach der Lektüre war ich enttäuscht, ganz, als hätte ich es schon geahnt: Von den 47 in dem Buch aufgelisteten Rezepten kannte ich nur sieben. Nein, es liegt nicht an meiner Ignoranz: Ich wurde im Norden Bosniens geboren, habe dort zwanzig Jahre lang gelebt und besuche es jedes Jahr mindestens dreimal. Meine Mutter ist eine hervorragende Köchin, die mich für alles rund um das Essen begeistert hat, sodass ich es mir in Deutschland zum Beruf gemacht habe: Als Kulturwissenschaftlerin forsche ich über Essen. Wieso also war es möglich, dass mich gerade dieses Büchlein über meine eigene »Heimatküche« mit einer solchen Wissenslücke konfrontiert hat? Gilt nicht eine Essenskultur, gleich wie die Muttersprache, als etwas, was einem in Fleisch und Blut sitzt? Selbst und vor allem, wenn man sich im Ausland befindet?
Eine Essenskultur wird durch soziale, ethnische und religiöse Normen bestimmt. Diese stimulieren und manipulieren Zugehörigkeitsgefühle und geben vor, dass es so etwas wie reine nationale Küchennarrative oder Identitäten gibt. Pizza sei demnach die Pupille Italiens, der Wein das Blut der Bastille und die Kartoffel... ach, die gute, alte deutsche Knolle! Logischerweise frage ich mich demnach, was denn urbosnisch sei. Das Kochbuch offenbarte mir die Antwort mit Gerichten wie Jahnija, Djunlari oder Hoschaf. Nie gehört. Baklava, Cevap und Börek, die Überbleibsel des Osmanischen Reichs, sagen mir dagegen viel mehr, doch mein bosnisches Herz schlägt für heiße Ochsenschwanzsuppe mit Grießknödeln, dicken Bohneneintopf mit geräuchertem Fleisch oder samtweiche Buchteln mit hausgemachter Pflaumenmarmelade. Als wäre es nicht schlimm genug, dass man mich durch die konfliktreiche Geschichte Bosniens meiner Muttersprache beraubt hat, jetzt wollen sie mir auch noch meine Cicvara nehmen! Wie jede andere Gesellschaft versteht sich auch die bosnische am besten in den Grenzziehungen. Seitdem es Bosnien gibt, kann es sich nicht entscheiden, ob es dem Osten oder Westen, dem Schwein oder dem Lamm gehört. Auch wenn es Zeiten gab, wo es intensiver mit der Außenwelt interagiert hat und die Kulturen und Zugehörigkeiten im Wandel waren, ist das Land heute sowohl nach außen als auch nach innen abgeschlossener denn je. Die geografischen Grenzziehungen schleichen sich in die sozialen Bereiche ein. Diese wiederum korrespondieren mit einer Reihe von rituellen Praktiken, die in dem Chaos der Religionen nur scheinbar eine Ordnung schaffen: Muslime da, Christen dort, Juden raus.
Doch woraus entstehen diese rituellen Praktiken der Klassifizierung, die die Mechanismen des Ein- und Ausschlusses unterstützen? Wenn man sich in Bosnien ein wenig umhört, egal in welchem ethnischen Landesteil, fällt die Resonanz fast immer gleich aus: »Ich respektiere alle Religionen und Nationen, aber die – gemeint sind die nächsten Nachbarn, Muslime oder Christen – sind irgendwie dreckig. Sie waschen sich nicht regelmäßig.« »Sie nutzen kein Klopapier.« »Sie essen Schwein/Kuhfett/viel/wenig.« »Deren Essen stinkt.« Sonntagsgebet? Fasten? Barmherzigkeit? Alles Schnee von gestern. Es sind die Reinheitsvorstellungen und das Diktat der Sauberkeit, die die Grenzziehungen voraussetzen und mit den Systemen der Inklusion und Exklusion kohärieren. Die Differenzkategorien von »rein« oder »unrein« beschränken sich nicht nur auf rituelle Waschungen, sondern werden in erster Linie metabolisch definiert: durch die Praktiken der Nahrungsaufnahme.
Auf diese Zusammenhänge hat die britische Anthropologin und Ethnologin Mary Douglas in ihrem Werk »Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellung von Verunreinigung und Tabu« bereits im Jahr 1966 verwiesen. Dort skizziert sie, wie kulturspezifische Vorstellungen von einer Ordnung der Dinge meistens mit religiös sanktionierten Konzepten von Reinheit oder Unreinheit einhergehen. Nach Douglas gehört die Sauberkeit zur Ordnung und wenn man die Ordnung behalten will, darf man sie nicht mit Schmutz verunreinigen. Der Schmutz ist dabei etwas, was nicht dazugehört, unerwünscht und unvorhersehbar. Wie Douglas kulturübergreifend zeigt, lauern die Gefahren der Verschmutzung überall: von Ausscheidungen des eigenen Körpers (Exkremente, Menstruationsblut, Speichel oder Sperma gelten in vielen Kulturen als unrein) bis zu den verschiedenen sozialen Orten oder marginalen Zuständen, die chaotisch erscheinen, wie beispielsweise der Tod.
Aber wie kann Verunreinigung durch Nahrung, durch Essen übertragen werden? Douglas zeigt am Beispiel des indischen Kastensystems, wie hinter jedem gekochten Essen eine Reihe von Tätigkeiten und Menschen stehen. Deshalb sind die Speisen mit unterschiedlichen Graden der Unreinheit belastet, die ihnen die Kastenhierarchie zuschreibt. Außerdem geht Douglas auf die Logik der mosaischen Speisegesetze ein und analysiert die im dritten Buch Mose festgeschriebenen Reinheitsgebote: Die Reinheit der Tiere richtet sich danach, ob sie Paarhufer oder Unpaarhufer, Wiederkäuer oder Nicht-Wiederkäuer sind. Schweine oder Kamele gelten demnach als unrein und dürfen nicht verzehrt werden. Die Reinheit eines Tieres kann auch an seiner Bewegungsform festgemacht werden: Als rein gelten all jene Tiere, die vollständig an eine Bewegung in dem ihnen zugehörigen Element (Luft, Erde, Wasser) angepasst sind. Diejenigen Tiere, die sich in ihrer Fortbewegung nicht eindeutig zuordnen lassen, verstoßen gegen die klassifizierende Ordnung und gelten als unrein.
Hätten meine Landsleute nur vorher gewusst, denke ich sentimental, dass es nur um ein paar unentschlossene Tiere geht! Dann hätten sie sich vielleicht nicht derart ethnisch gesäubert. Und ich hätte mein erstes Lokum nicht erst in Deutschland zubereiten müssen. Aber was unrein ist, soll gereinigt werden, da muss man gar nicht nur an radikale Bosnier oder Inder denken. Es reicht, wenn wir die Ernährungspraktiken der heutigen Westeuropäer ins Auge fassen.
Der Anspruch auf natürliche, organische und gesunde Lebensmittel scheint im Leben vieler Westeuropäer sinnstiftend zu sein. Im herrschenden Lebensmittelüberfluss bringt alles Reine, Pure, Heimische und Regionale eine gewisse Ordnung. Sicher will man mit seiner Achtsamkeit in puncto Essen auch einen gutbürgerlichen Beitrag zum Naturschutz leisten. Durch den Verzicht auf tierische Produkte tötet man zwei Fliegen mit einer Klappe: Man protestiert gegen die Massenproduktion und kümmert sich um die eigene Gesundheit. Die Ernährungsweise wird so zum Identitätsmerkmal einer Person: Bist du vegan? Nein, ein Paleo, und du? Frutarier, freut mich. Schön, wir sind also alle Gut-Essende. Was heißt denn »gut essen«? Sich das Reine und Lokale einzuverleiben? Wird man bald so lokal sein, dass nicht einmal die Pflanzen nötig sein werden, weil allein der pure, heimische Boden schon zahlreiche Nährstoffe enthält? Vermutlich wäre das ausreichend für viele moderne, vereinsamte Asketen. Da alle Überflussgesellschaften auch Fütterungssysteme sind (heutzutage sterben deutlich mehr Menschen an Übergewicht als an Unterernährung), dulden sie nicht die zähmende Funktion der Religionen wie Fastenzeiten oder Tieropfer. Stattdessen erzählen wir uns heutzutage, frei nach Ludwig Feuerbach: »Du bist, was du isst.« Das Essen ist dabei kaum noch eine kollektive und sinnliche Erfahrung, sondern eine persönliche Erzählung. Nur identifizieren wir uns nicht dadurch, was wir essen, sondern was wir nicht essen. Ein anderes Essensritual tritt zutage, nämlich der Verzicht, genannt Diät. Dass die Ignoranz gegenüber den körperlichen Bedürfnissen die Grundregel einer fundamentalen Ideologie bilden kann, davon zeugen nicht nur die Berichte über diszipliniert hungernde Anachoreten im nahen Osten, sondern auch die mittelalterliche Geschichten über die sogenannten Fastenmädchen (fasting girls), die Emma Donoghue in ihrem aktuellen Roman »Das Wunder« literarisch bearbeitet hat. Was uns aber durch das Hungern abhandenkommt, ist das Prinzip des Teilens. Man hungert allein. Dabei ist gemeinsames Essen, das auf gegenseitigem Geben und Nehmen basiert, für den französischen Philosophen Jacques Derrida eine Maxime für gutes Essen, das »Gesetz der ewigen Gastfreundschaft«. Wie wackelig die Gesetze der ewigen Gastfreundschaft sind, zeigt uns ein Beispiel aus Italien: Die von der Lega regierte Stadt Lodi erhöhte neulich die Preise in der Schulkantine, um ausländische Kinder, die sich die teuren Mahlzeiten nicht mehr leisten können, von der gemeinsamen Tafel auszugrenzen. Gleichzeitig dürfen sie sich auch kein eigenes Pausenbrot in die Mensa mitbringen. Warum? Natürlich »aus hygienischen Gründen«.
Allen homogenen Ideologien zum Trotz heißt man an manchen Orten die Begegnung der Kulturen willkommen, wie auf den zahlreichen Streetfood-Märkten jeder größeren europäischen Stadt. Dort stellt sich heraus, dass die Angst vor dem Fremden ein schlecht erzählter Mythos ist. In den fremdkulinarischen Angeboten offenbart sich freilich die eigene Faszination für das Unbekannte oder Exotische. Man stillt das Verlangen und die Neugier nach neuen Geschmacksrichtungen, man kann selbst ein Fremder in der eigenen Stadt sein. Und keinen stört, dass der Speisesaal eigentlich eine dreckige Straße ist. Die Streetfood-Märkte rufen die Erinnerungen an ehemalige Handelsrouten wie die Seidenstraße oder an große Märkte wie im malischen Djenné wach. Sie gemahnen uns, dass das Essen ein Austausch ist, der stets mit Bewegung, Vermischung und Grenzüberschreitung zu tun hat. Gewandert sind nicht nur die Menschen, sondern auch Pflanzen und Tiere. Wie glücklich musste der fressgierige, aber unerfahrene Sonnenkönig Frankreichs gewesen sein, als er kostbare Pfefferkörner erworben hatte, sodass er sich sofort eine Handvoll davon in den Mund stopfte. Mit zunehmender Globalisierung, Massenmigration und Massentourismus sind wir gegenüber diesen Bewegungsräumen kurzsichtiger geworden, sodass wir auch für die Kartoffel eine Gebrauchsanweisung brauchen: Sie ist nicht deutsch, sie kam als Neuankömmling erst mit der Entdeckung Amerikas zu uns. Und Pommes sind keine amerikanische, sondern eine europäische Erfindung. Dass auch die Gerichte wandern, zeigt am deutlichsten die Küche der Gastarbeiter nach 1945: Was wäre Österreich ohne Balkan-Grill und Deutschland ohne Spaghetti?
Im 21. Jahrhundert zu behaupten, dass ein Land ein Patent auf ein Gericht hat, ist ein Überbleibsel aus der Vergangenheit. Es ist allgemein bekannt, das bestätigt auch der Autor Ognjen Lopusa, dass der Whiskey heute am besten in Japan schmeckt und Schweden am meisten Kardamom für sein Gebäck importiert. Und der bosnische Eintopf, dieser traditionell verkochte Mischmasch? Er erweist sich als genauso altmodisch wie der »melting pot«, die kulinarische Metapher aus den USA. Dort, wo Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund gezwungen in einem Topf schmoren, bis sie am Ende nur noch zäh und geschmacklos ein leistungsfähiges System bedienen, gibt es immer den Anspruch auf Homogenität, Ordnung und Reinheit. Auch das neuere Konzept der »salad bowl« bietet keine akzeptable Alternative: Die Kulturen sollen nebeneinander leben, sich höchstens mit einem Dressing vermischen? Das ist doch roh!
Was tun? Entspannt euch einfach. Niemand kann euch euren Rinderbraten oder eure Baklavas aus dem Herzen reißen. Protestiert lieber gegen die schlechte Qualität der Lebensmittel und gegen ihre ungerechte Verteilung. Tauscht Bekehrungen mit Kompromissen. Schaut in euch hinein; vielleicht erfreut sich euer Magen an den verbotenen, unreinen nachbarschaftlichen Lokum-Delikatessen. Wenn Ihr das toleriert, seid ihr im Reinen. Es gibt keinen Grund für Streit. Ganz so wie der Schriftsteller Ilija Trojanow schreibt: »Kulturen bekämpfen sich nicht – sie fließen zusammen.« So auch die Gerichte!