„Die Welt will andere Dinge als wir“
In seinem Roman »Die Wurzeln des Lebens« verflicht Richard Powers seine Figuren wie das Wurzelwerk eines Waldes. Und kämpft mit ihnen für die Rechte der Bäume
Herr Powers, Sie haben sich auf über 600 Seiten mit Bäumen beschäftigt. Wie haben Sie die Welt des Waldes inhaliert?
(lacht) Inhalieren ist das richtige Wort. In Japan gibt es eine Obsession, das »Waldbaden«: Man hat herausgefunden, wie heilsam der Wald bei Krankheiten wie Bluthochdruck oder Diabetes ist. Deshalb war das Beste, was ich während meiner Arbeit an diesem Buch getan habe, in den Wald zu ziehen. Der Roman hat tatsächlich mein Leben verändert. Seit drei Jahren lebe ich in den Smoky Mountains in den Appalachen. Einen Primärwald wie den Red Wood Forest hatte ich nie zuvor gesehen – es stehen übrigens nur noch drei Prozent davon. Man weiß sofort, dass hier etwas anders ist: Es riecht anders, hört sich anders an.
»The Overstory« heißt Ihr Buch im Original. Gibt es auch eine »understory« – das englische Wort für »Unterholz«?
»Story« hat ja im Englischen eine doppelte Bedeutung: »Etage« und »Geschichte«. Es geht um die »Etagen« des Baumes. Das Buch erzählt, wie Bäume miteinander Kontakt aufnehmen und im Austausch stehen. Der Wald ist solidarisch – wir dagegen glauben, dass wir alles allein schaffen können. Das ist die »understory«. Sie enthält Mythen, die es bei Ovid genauso wie in chinesischen Geschichten gibt, diese Kultur des Mysteriösen, an die wir Menschen wieder mehr anknüpfen sollten.
Im ersten Teil »Wurzeln« stellen Sie neun Familien dar. Die Generationenfolge nimmt stetig ab: Während es in der norwegischen Einwandererfamilie Hoel Urgroßväter und Enkel gibt, hat die Studentin Olivia zwar Eltern, sie sind jedoch nur am Telefon zu hören. Warum diese Reduktion?
Die neun Protagonisten kommen aus unterschiedlichen Milieus und werden zu einem Mikrokosmos. Ich wollte ein Szenario, in dem unterschiedliche Menschen langsam zueinanderfinden.
Ist das Ihre Utopie für die Menschheit?
Ich würde sagen: eher ein Vorschlag zu sagen, wie verflochten, wie abhängig wir voneinander sind.
Zu Beginn sterben einige Menschen sehr plötzlich. Warum?
Plötzliche Gewalt beinhaltet einen Moment der Verwandlung. Tod und Neuanfang gehören zusammen. Alle Protagonisten meines Buches erleben einen solchen Moment, der sie zu den Bäumen führt und sie merken lässt: Dort ist Leben. Patricia etwa, die Biologin, entdeckt, wie viel Leben in einem toten Baum steckt, tausendmal mehr als in einem lebendigen. Der tote Baum kehrt in das System zurück und nährt den Wald.
Die digitale Welt verkörpert der Sohn eines Pakistani, Neelay Mehta, ein junger Nerd im Rollstuhl ...
Das Digitale ist eine Aussage über die menschliche Verbindungslosigkeit, sie ist das logische Extrem dessen, was wir gerade erleben: die Kraft, die in dem Willen steckt, kontrollieren und beherrschen zu wollen. Neelay nennt sein Spiel »Mastery«. Am Ende hat er aber einen klarsichtigen Moment: statt sein Spiel grenzenlos weiterlaufen zu lassen, sagt er sich, dass er die Grenzen des Menschseins aufzeigen muss. Neelay hofft, dass wir mithilfe von Technologie das unglaubliche soziale System der Bäume verstehen werden und unsere Vereinzelung aufgeben.
Mit der Auseinandersetzung um den Hambacher Forst haben wir gerade in Deutschland einen Kampf um Wald erlebt. Auch Ihre Protogonisten verwandeln sich zu Baumaktivisten, manche sogar zu Terroristen. Wie sehen Sie die Auseinandersetzung zwischen Naturschützern und Wirtschaft?
Der Hambacher Forst hätte ein Kapitel aus meinem Buch sein können. Dieser Kampf wird oft so dargestellt, als verliefe er zwischen Nostalgikern, die den Wald beschützen wollen, und Pragmatikern, die ökonomisch vernünftig handeln. Aber was ist ökonomisch sinnvoll? Dass wir die Schätze der Erde auf Nimmerwiedersehen verbrauchen, anstatt uns um den Erhalt sauberer Luft, diese kostenlose Baumdienstleistung, zu sorgen? Mit schmutziger Luft werden wir doch nicht reich. Der Nationalpark in den Smoky Mountains wirft jedes Jahr eine Milliarde Dollar Gewinn ab durch Ausgaben von zwölf Millionen Touristen für Essen und Unterkunft. Der Eintritt in den Park ist frei. Mit dem Bergabbau, den Trump in einigen Nationalparks erlauben will, erwirtschaftet man diese Summen nie.
Die Kämpfe werden also zunehmen.
Sie müssen! Wir haben aufgehört, Geschichten zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Begehren zu erzählen, weil wir glaubten, dass dieser Krieg zu Ende sei und wir die Sieger seien. Nun erkennen wir, dass wir diesen Kampf gar nicht gewonnen, ja dass wir ihn sogar verloren haben. Jeder Monat bringt neue Katastrophen. Die Bäume wird es immer geben, uns nicht. Die Welt will andere Dinge als wir. Jetzt brauchen wir wieder Geschichten, die uns erzählen, wie wir hier auf der Erde bleiben können.
Müssen wir verzweifeln?
Nein, wir Menschen sind auch Zauberer! Wir können unser Wissen anwenden, weil wir ein Bewusstsein haben. Die Frage ist, wie wir die Bäume zu unseren Freunden machen, wie wir uns mit ihnen verbinden können.
Westliche Gesellschaften diskutieren darüber, dass der Zusammenhalt fehlt. Inwiefern hat dieses Fehlen von Solidarität auch mit der Zurückdrängung der Natur zu tun?
Psychologen haben ein Wort dafür: species loneliness. Wir wollen nicht allein sein. Es ist wie in dem Computerspiel »Fortnite«: Wir haben das Spiel vom menschlichen Fortschritt erfunden und geben uns jedes Mal einen Goldstern, wenn wir ein höheres Level erreichen. Wie aber können wir an einen Stern glauben, den wir selbst erfunden haben? Das ist total narzisstisch. Das Einzige, das uns bestätigen kann, ist der Rest der Schöpfung.
»Aber die Menschen interessieren sich nicht für Hoffnung und Wahrheit, wenn der Nutzen fehlt«, heißt es an einer Stelle des Romans.
Den Sinn von Darwins »Überleben des Stärksten« haben wir falsch verstanden. Es geht nicht um Wettbewerb, sondern darum, wie gut wir uns der Umwelt anpassen und nachhaltig handeln können. Geld und Erfolg sind nie genug. Als Rockefeller gefragt wurde, wie viel genug sei, antwortete er: ein bisschen mehr.
1972 erschien das Buch von Christopher Stone »Haben Bäume Rechte?«, das eine Ihrer Figuren liest. Wie steht es um die Rechte von Bäumen, Ozeanen oder Tieren?
Bolivien und Neuseeland versuchen, Rechte für nichtmenschliche Einheiten zu verhandeln. Unser Wohlstand hängt ausnahmslos von unserem Ökosystem ab. Ob Bäume Rechte haben sollen, ist daher keine Frage, die wir unabhängig von menschlichen Rechten denken können. Wenn wir überleben wollen und von anderen Lebewesen abhängig sind, dann müssen wir sie mit dem Recht beschützen wie uns selbst. Es ist eine Frage der Selbstverteidigung.
Das Interview führte Stephanie von Hayek
Die Wurzeln des Lebens. Von Richard Powers. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. s. Fischer, Frankfurt/Main, 2018.