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„Den Alpinismus haben die Briten erfunden“

Warum es Flachländer in die Berge zieht. Ein Interview mit dem Autor Will Self

Herr Self, Sie stammen aus dem Flachland. Macht das die Berge für Sie besonders reizvoll? 

Ich habe in Suffolk gelebt, flacher geht es nicht. Und ich erinnere mich, dass ich viele Bücher von Reinhold Messner gelesen habe. Man muss sich fragen: Warum üben die Berge auf Engländer so eine starke Anziehung aus? Es stimmt nämlich: Die Engländer haben zu den Bergen eine besondere Beziehung. Die Engländer haben den Alpinismus quasi erfunden, das kann man bei Robert Mcfarlane in „Berge im Kopf: Die Geschichte einer Faszination“ nachlesen. Ich habe viele Bücher über das Bergsteigen gelesen. Es war eine spezielle Art von Lektüre. Ich las nicht im weitesten Sinne zum Vergnügen, sondern aus Schadenfreude (interessanterweise eines der wenigen deutschen Lehnwörter in der englischen Sprache, wahrscheinlich weil es eine tiefe Übereinstimmung zwischen den Deutschen und Engländern gibt, wenn sie über die Missgeschicke des jeweils anderen lachen). Es ist sehr befriedigend, zu lesen, wie irgendein armer Tropf an einem Seil über einem tödlichen Abgrund baumelt, wenn man selbst gemütlich in einem Bett im Flachland liegt. 

Sie sind ein überzeugter Wanderer und haben viel über das Wandern geschrieben. Wandern Sie auch auf Berge?

Ja, ich steige auf Berge, aber ich wollte nie etwas machen, wozu ich ein Seil benötige. Da wird mir schwindelig, auf diese Erfahrung habe ich keine Lust. Ich bin auf schottische Berge gewandert, die über tausend Meter hoch sind (sogenannte Munros). Nach kontinentaleuropäischen Maßstäben verdienen sie wohl kaum die Bezeichnung „Berg“, aber nach britischen oder schottischen Kriterien sind sie zweifelsohne Berge. Es gibt etwa 300 von ihnen, und ich wollte es vorsichtig angehen, denn die Munros zu besteigen, ist für britische Männer fortgeschrittenen Alters und linker Gesinnung sehr gefährlich. Sowohl John Smith, der ehemalige Vorsitzende der Labour-Partei, als auch Robin Cook, der mit seinem Rücktritt aus der Regierung Blair während des Irakkrieges für Aufsehen sorgte, starben an einem Herzinfarkt, während sie einen Munro bestiegen. 

Wie sind Sie zum Wandern gekommen? 

Es liegt mir im Blut. Mein Vater war ein begeisterter Wanderer und er liebte das Bergsteigen, mehr als ich. Er nahm mich als Kind auf viele Berge mit, und er hatte überhaupt keine Höhenangst. Er liebte es, direkt am Rand eines Abgrunds zu stehen. Er brachte es auch uns bei. Aber irgendwann entwickelte ich Höhenangst. Sie ist nicht so schlimm, aber ich stehe nicht mehr gerne an steilen Abgründen.

Sie haben ein Buch über Psychogeografie geschrieben. Was ist das genau? 

Der Begriff „Psychogeographie“ geht auf den russischen Theoretiker Chtcheglov zurück, der Mitglied der Situationistischen Internationale war. Er bezieht sich auf Debords Konzept des Spektakels, auf die Idee, dass das authentische Sein unter den Bedingungen des Spätkapitalismus dem geopfert wird, was Debord als eine „Bildfolge“ bezeichnete, weswegen wir keine Beziehung mehr zu dem Ort haben, an dem wir uns tatsächlich befinden: Alles wird durch Bilder vermittelt. Das Hauptwerkzeug der Psychogeografie ist die „dérive“, das Treibenlassen, eine Wanderung ohne vorherige Planung, meist in einem urbanen Umfeld (ein ländliches oder halb ländliches Umfeld ist ebenfalls möglich), bei dem man die Metrik von Zeit und Geld hinter sich lässt, die das Leben im Spätkapitalismus bestimmt. Dein Zähler läuft. Wie viel Zeit kann ich erübrigen? Wir sind diesem Zähler komplett unterworfen, wie ein Taxifahrer. Wir werden die ganze Zeit von der Korrelation von Zeit und Geld beherrscht. Das Treibenlassen will den Würgegriff von Zeit und Geld, in dem wir uns befinden, aufbrechen. 

Kann man das auch in den Bergen praktizieren oder funktioniert das nur im urbanen Kontext? 

Ich denke schon, dass man das in den Bergen machen kann. Unsere westeuropäischen Landschaften sind fast komplett anthropisch, das heißt, man kann fast überall Psychogeografie praktizieren. Selbst im alpinen Hochgebirge sind die Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels sichtbar. Es funktioniert in den Bergen genauso gut wie überall sonst. Ich bin viel mit dem Künstler Anthony Gormley gewandert, und er hatte einen anderen interessanten Ansatz. Er hat viel Erfahrung mit Meditation, in seiner Jugend war er Buddhist. Ein heiliger Mann hatte ihm ein K?an mit auf den Weg gegeben, eine buddhistische Lehre oder ein Lebensmotto. Es lautete: Wenn er ein physisches Hindernis sieht, muss er es überwinden. Wenn er einen Berg sieht, muss er ihn besteigen, wenn er einen See sieht, muss er hineinspringen. Es ist immer aufregend, mit ihm zu wandern. 

Ist Psychogeografie eine Reaktion auf die Digitalisierung und die Hektik des modernen Lebens? 

Der Schlüssel ist für mich die körperliche Auseinandersetzung mit Orten und Räumen – das Leben in der physischen Realität, losgelöst von GPS und Landkarten aus Papier. Man kann das auf ganz unterschiedliche Arten machen, man muss nur seinen Körper wieder benutzen. Es braucht diese direkte Bodenhaftung. Als ich Anfang vierzig war, fühlte ich mich so eingesperrt. Es wurde zu einem echten Problem. Ich hatte bis dahin fast jedes Jahr ein Buch veröffentlicht und machte auf Lesereisen durch die USA und Kontinentaleuropa Werbung dafür. Doch ich fühlte mich komplett entfremdet und entwickelte meine eigenen psychogeografischen Praktiken. Erst später stieß ich auf Texte zu dem Thema. 

Welcher Berg hat Sie am meisten beeindruckt? 

Das Archipel St. Kilda ist sehr eigentümlich. Es liegt vier- zig Kilometer westlich von Lewis, in den äußeren Hebriden. Die Hauptinsel, Hirta, ist nur knapp 259 Hektar groß. Sie gleicht einem natürlichen Amphitheater mit einem Ring aus Bergen, die zwar nicht allzu hoch sind, aber an einer Seite steil ins Meer hinabfallen. Es ist eine 400 Meter hohe Klippe, die ganz gerade abbricht und dann mitten im Atlantik landet. Die Insel ist so abgelegen, dass sie extrem schwer zu erreichen ist. Fast 600 Jahre lang lebte dort eine Gemeinschaft von Menschen fast ohne Kontakt zur Außenwelt. Sie hatten ihren eigenen Dialekt und ihre eigene Religion. Als man sie im 19. Jahrhundert entdeckte, wurden von Liverpool aus Fahrten mit dem Dampfschiff angeboten, beworben mit dem Slogan: „Besuchen Sie Großbritanniens letzten primitiven Stamm!“ In den 1930er-Jahren wurde die Insel dann evakuiert, weil die Gemeinschaft nicht mehr überleben konnte. Ich bin dorthin gesegelt und habe die Berge bestiegen. Es ist ein ganz besonderer Ort. 

ein Interview von Jess Smee

aus dem Englischen von Caroline Härdter