Amputierte Kuppen
In den Appalachen zerstören Großkonzerne für den Kohleabbau einen ganzen Lebensraum
Aus dem Englischen von Caroline HärterWer durch den Osten der USA fährt, etwa durch Pennsylvania oder Virginia, der kommt um die Appalachen nicht herum. Kilometer um Kilometer sieht man durch die Windschutzscheibe nichts als die bewaldeten Hänge des Bergmassivs, das sich in sanften Wellen bis zum Horizont erstreckt. Umso größer ist der Schock unter ortsfremden Besuchern, wenn dieses malerische Panorama nach einer scharfen Kurve plötzlich von einer kahlen Mondlandschaft abgelöst wird. Statt bunter Laubwälder tauchen plötzlich kahle Steinwüsten auf, statt klarer Gebirgsbäche rostrote, milchig weiße oder gar schwarze Rinnsale, statt majestätischer Berge abgetragene Felshaufen.
Auf den ersten Blick muten diese toten Areale an wie die Schauplätze verheerender Kometeneinschläge. Tatsächlich sind sie jedoch menschengemacht. Sie sind das Produkt des Mountaintop Removal Mining (MTR), also des Bergbaus durch Gipfelabsprengung. Bei dieser Sonderform des Tagebaus werden, wie der Name schon sagt, ganze Bergkuppen abgetragen, um an die tief unter dem Fels liegenden Kohleflöze zu gelangen. Und seit den 1990er-Jahren sind die Appalachen weltweit zu einer der wichtigsten Stätten für MTR-Projekte geworden. Großkonzerne roden hier ganze Wälder ab, um an die unter ihnen verborgenen Felskuppen zu gelangen – und räumen diese dann mithilfe von Sprengstoff und schwerem Gerät ab. So können an einer einzigen Projektstätte bis zu 250 Höhenmeter eines Berges abgetragen und riesige Mengen Kohle zutage gefördert werden. Mehr als 500 Berge wurden in den Appalachen auf diese Art und Weise bereits zerstört, und weitere sind in Gefahr.
Für die Betriebe ist der MTR-Bergbau eine willkommene Alternative zu anderen Methoden des Kohleabbaus. Nicht zuletzt weil schwere Maschinen und Dynamit viele Arbeitskräfte ersetzen und vergleichsweise kostengünstig sind. Für die Menschen in der Region hat der MTR-Bergbau jedoch weitreichende Folgen. Über ihren Köpfen explodieren nicht nur tonnenweise Sprengstoffe, ihre Umwelt verändert sich auch nachhaltig. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass durch die Bergbaumaßnahmen bereits Gebirgswasserläufe in einer Länge von über 300 Kilometern verschwunden sind. Und da die Fläche des MTR-Bergbaus in den Appalachen fünf Millionen Hektar umfasst, hinterlässt auch der Kahlschlag der Wälder einen nachhaltigen Abdruck in der ansonsten so malerischen Landschaft.
Viele Anwohner nehmen das mit Unbehagen zur Kenntnis. Sie sehen die verschmutzten Gebirgsflüsse, wischen den Gesteins- und Kohlestaub von ihren Fenstern und verstehen zunehmend, dass die Industrie auf ihre Kosten arbeitet. Und die könnten am Ende größer sein als bisher angenommen: Neue Studien zeigen, dass Menschen, die in der Nähe der Tagebaugebiete leben, im Vergleich zu den Bewohnern anderer Gemeinden in den Appalachen ein viel höheres Risiko haben, an Krebs, Atemwegs- oder Gefäßerkrankungen zu sterben. Und auch die Zahl von Neugeborenen mit Geburtsfehlern ist im Umkreis der MTR-Projekte höher. Die gesundheitlichen Folgekosten des Kohleabbaus überschreiten seinen wirtschaftlichen Ertrag.
Gruppen von Umweltschützern und Anwohnern haben deshalb zuletzt in Washington, D.?C., protestiert und dem Kongress unter anderem einen Gesetzesvorschlag zur Abschaffung des MTR-Bergbaus unterbreitet. Bislang jedoch ohne Erfolg. Die Politik schützt die Industrie – und Präsident Trump versprach schon vor seinem Amtsantritt die Rückkehr in das goldene Zeitalter der Kohle. Für die Menschen in den Appalachen könnte dieses Wahlkampfversprechen verheerende Folgen haben.
aus dem Englischen von Caroline Härdter