Paradiesische Versprechungen

Der ehemalige Dschihadist Oliver N. hat einen Erfahrungsbericht über sechs Monate im »Islamischen Staat« verfasst

»Ich war gerade einmal sechzehn Jahre alt, frisch konvertiert und schon im Kalifat angelangt. Kein Gejammer mehr von den Betreuern und den Kollegen, kein Gezänk mehr mit meinem Vater und dessen neuer Frau. Endlich sollte alles besser werden.« Der Gedanke, der dem 16-jährigen Oliver N. kommt, als er die türkische Grenze Richtung Syrien überquert, klingt wie ein hoffnungsvoller Seufzer.

Doch dieser Seufzer ist längst verklungen. Der junge Mann ist nach sechs Monaten in Syrien und dem Irak wieder zurück nach Österreich geflohen, wo er eine fast zweijährige Haftstrafe abgesessen hat. Seither arbeitet er für die Initiative DERAD, die im Bereich der Extremismus-Prävention aktiv ist. Mit dem nun vorliegenden Buch versucht er dazu beizutragen, andere Jugendliche davon abzuhalten, einen ähnlichen Weg einzuschlagen, wie er es getan hat.

Als Oliver N. sich im Sommer 2014 dem »Islamischen Staat« anschloss, ahnte er noch nicht, dass er nur knapp dem eigenen Tod entgehen wird. Er sah nur seine eigene Einsamkeit und Überforderung im Alltag, denen er entfloh, indem er den paradiesischen Versprechungen folgte, die ihm seine neuen »falschen Brüder« vom Leben im Islamischen Staat gemacht hatten. Dass das Interesse der extremistischen Gemeindemitglieder weniger dem Sorgenkind Oliver N. als vielmehr dem künftigen IS-Kämpfer »Abu Muqatil« (so wird sich N. selbst nennen) galt, erkannte der damals 16-jährige nicht. Im Gegenteil, er fühlte sich endlich angekommen in einer Gemeinschaft, für die er bereit war, sein bisheriges Leben aufzugeben. Er konvertierte zum Islam, ging nicht mehr zur Arbeit, wendete sich von seinem Vater ab und löschte seine weiblichen Facebook-Kontakte. Mehr und mehr kapselte er sich ab, bis schließlich nur noch seine »Brüder« in der Gemeinde übrig blieben. Ihre Handyvideos wurden zu seiner Hauptnachrichtenquelle zum »Heiligen Krieg« in Syrien und im Irak. Eines Tages fragten sie ihn, ob er sich als wahrer Muslim nicht dem Kampf gegen die Ungläubigen anschließen wolle.

»Ich hatte in meinem Leben bereits eine Familie verloren und wollte das nicht noch einmal erleben«, erinnert sich N. in seinem Bericht. So kam es zu seiner heimlichen Ausreise in den »Islamischen Staat«, in dem alles viel chaotischer ablief, als es sich Oliver N. in seiner jugendlichen Naivität vorgestellt hatte. Statt Helfer beim geordneten Aufbau eines Gottesstaates zu werden, fand er sich mitten im Krieg wieder. Hatte er anfangs gehofft, ein  »cooles« militärisches Training zu erhalten, um dann »gemeinsam mit seinen Brüdern« eine neue Gesellschaft zu gründen, musste er schnell einsehen, dass in Syrien nichts so lief, wie es ihm in Wien versprochen worden war. Die anfängliche Faszination wich schnell der Fassungslosigkeit – über die katas­trophalen Zustände im »Islamischen Staat«, über die Gleichgültigkeit und Skrupellosigkeit der militärischen Führung und über die alltäglichen Grausamkeiten, deren Zeuge er wurde.

Eingesetzt als Sanitäter in den syrischen Städten Rakka und Kobane sowie im irakischen Mossul wird der junge Mann plötzlich konfrontiert mit unzähligen Toten und Verletzten. »Es war kein Computerspiel, bei dem man nach dem Tod auf dem alten Level neu anfangen konnte.« Je einschneidender die Erfahrungen waren, die er als IS-Rekrut sammelte, desto größer wurden seine Zweifel. Doch erst als der nachhaltig traumatisierte N. bei einem Einsatz schwer verletzt wurde und nur knapp überlebte, begann er, seine gefährliche Flucht aus dem Kalifat zu planen.

Ob sich die im Nachhinein rekons­truierten Ereignisse immer wie geschildert zugetragen haben, lässt sich nicht vollständig nachweisen. Am Ende überzeugt aber das Gesamtbild eines Überlebens im »Islamischen Staat« und die Schilderung der inneren Motivation und äußeren Zwänge des Autors. Fassungslos liest man diesen eindrucksvollen Erfahrungsbericht aus der IS-Hölle, der deutlich macht, wie die islamistische Propaganda funktioniert und wie radikalisierte Muslime diejenigen für ihren Wahnsinn gewinnen, die von der Gegenwart überfordert sind.

Meine falschen Brüder. Wie ich mich als 16-Jähriger dem Islamischen Staat anschloss. Von Oliver N. und Sebastian Christ. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2017.