Aus zweiter Hand
Durch den illegalen Import europäischer Markenkleidung wird die Textilbranche in Bolivien immer weiter geschwächt
Ich treffe Violeta in einem Café in San Miguel, dem sozialen und kommerziellen Zentrum der Zona Sur, der »Südzone « von La Paz, zweifelsohne eine der privilegiertesten Gegenden in ganz Bolivien. Hier finden sich die In-Lokale und Cafés, die teuersten Möbelgeschäfte, Boutiquen und Parfümerien der Stadt neben verschiedensten Ladengeschäften, die neue und originelle Importwaren feilbieten. Die meisten sind recht klein, denn »hier bestimmt der Geschmack des Inhabers das Angebot, so wie früher«, unterstreicht Violeta zu Beginn unseres Gesprächs, während sie auf die wenig einladenden Schaufenster zeigt.
Wir haben uns getroffen, um über Mode zu sprechen. Ein wichtiges Thema für die 48-jährige Architektin, die ihren echten Namen lieber nicht preisgeben möchte. Mode ist eine Frage des Erscheinungsbildes, und das ist bei ihr bis ins kleinste Detail durchgeplant, wie man an ihrer Kleidung und ihrer Tasche sehen kann. Violeta ist eine elegante Frau, mit einer Vorliebe für europäische Marken wie H & M, Zara oder Bershka. »Diese Marken sind nicht extravagant oder besonders teuer«, sagt sie mit einem Lächeln, »aber man findet sie eben nicht unbedingt in den Geschäften in San Miguel, und wenn doch, dann zu astronomischen Preisen. Deswegen gehe ich lieber in die Calle Onda, da ist die Auswahl einfach besser.«
Die kleine Straße, die sie meint, liegt im Zentrum der Stadt, weit weg von dem umzäunten Viertel, in dem sie in einem Haus mit Garten lebt, weit weg von San Miguel und dem Café, in dem wir gerade sitzen. Es ist lange her, dass die heruntergekommenen Kolonialbauten von La Onda zu ärmlichen Einkaufs-Galerías umfunktioniert wurden. Galerías nennt man Einkaufszentren mit winzigen und überfüllten Geschäften, abgetrennt durch Holzpaneele, die sich auf den Verkauf von US-amerikanischer »Premium-Ware« spezialisiert haben, was so viel heißt wie: Hier wird entweder das angeboten, was in New York oder Madrid nicht mehr markttauglich ist und für wohltätige Zwecke gespendet wurde, oder jene Waren von »Premium-Qualität «, die in La Paz landen und für ein Viertel des häufig auf dem Etikett noch erkennbaren Preises zu haben sind. Ein paar Blocks weiter über die Avenida Montes stehen auch die Läden für »ropa americana«.
Ropa americana ist der umgangssprachliche Ausdruck der Bolivianer für die mehrheitlich gebrauchten Kleidungsstücke, die ins Land geschmuggelt werden. Meistens sind es Stücke aus zweiter Hand, verpackt in kompakten Bündeln oder Ballen von dreißig bis siebzig Kilo, um in Containern über Chile bis zur bolivianischen Grenze verschifft werden zu können. Hier werden die Kleider von Schmugglern entgegengenommen, die sie illegal ins Land bringen und weiter in die improvisierten Sammelstellen in Städten wie Oruro oder El Alto transportieren. Dort werden die Bündel geöffnet und der Inhalt geprüft, um ihn zur Weiterverteilung unter den Großhändlern aus dem Landesinneren nach Qualität zu sortieren. Oder die Bündel werden vollständig an bestimmte Kunden verkauft. Zum Beispiel an die Händler auf dem Markt »Feria 16 de Julio«, der etwa dreißig Minuten von La Paz in der Nähe von El Alto liegt.
Glaubt man der Beschreibung der Touristenführer, so ist die Feria 16 de Julio der größte informelle Markt Südamerikas. Für sie ist es eine touristische Attraktion, genauso gut wie jede andere in Bolivien, vielleicht sogar etwas besser, wegen ihres urbanen und interkulturellen Charmes. Der Jach’a Qhathu, was auf der Aimara-Sprache »der große Markt« bedeutet, erstreckt sich etwa hundert Blöcke weit in alle vier Himmelsrichtungen.
Niemand weiß genau, wie viele tausend Stände hier aufgebaut sind. Es gibt Nischen für jeden Geldbeutel, es gibt Neues und Gebrauchtes, insgesamt besteht das Angebot mehrheitlich aus Schmugglerware und reicht vom Höschen bis zum Traktor, vom Dynamit bis zur ropa americana, die illegal ist und daher nur in Läden angeboten wird, die sich bemühen, nicht als solche erkennbar zu sein. Es sind eher Garagen als Geschäfte, ohne Schilder, in unauffälligen Nebenstraßen gelegen und weit ab vom Lärm des eigentlichen Marktes, nur donnerstags und sonntags ab fünf Uhr morgens geöffnet. Kurzum: Sie sind schwer zu finden.
Die Anwesenheit von Fremden, speziell die von Journalisten, weckt unter den Verkäufern Misstrauen, besonders dort, wo sich die Kleiderbündel stapeln. Sie lassen den Fotografen und mich nicht aus den Augen und reagieren sofort aggressiv. Sie weisen uns schroff darauf hin, dass das Fotografieren verboten sei, in der Hoffnung, wir wären Touristen und hätten uns verlaufen. Es wird schlimmer, als ich versuche zu erklären, dass ich herausfinden möchte, wer ihre Kunden sind oder wie sich ihre Klientel seit Beginn des Geschäfts mit der ropa americana Ende der 1980er-Jahre verändert hat. Damals kamen die Bündel noch ausschließlich als Spenden von gemeinnützigen Organisationen aus den USA, daher auch die Bezeichnung, um den ärmsten Bolivianern zu helfen. Das war lange, bevor sich der Handel mit getragener Kleidung zu einem weltweiten Industriezweig entwickelte, der im Jahr 2015 insgesamt auf einen Wert von 4,3 Milliarden US-Dollar geschätzt wurde.
In Bolivien ist der Import gebrauchter Kleidung seit Juni 2006 per Dekret verboten. Laut einer Studie von 2015 gelangen jedes Jahr etwa acht Tonnen Kleidung aus zweiter Hand über Chile nach Bolivien. Der Marktwert dieser Schmugglerware wird auf über vierzig Millionen US-Dollar geschätzt. Eine Zahl, die gegenüber den für 2017 prognostizierten elf Millionen US-Dollar an legalen Exporten im Textilsektor astronomisch wirkt. Der legale Export von Textilien leidet am stärksten unter der ungebremsten Zunahme des Schmuggels, und das trotz der Bemühungen der bolivianischen Regierung, eine Obergrenze für diese Art der Waren einzuführen. Erst kürzlich erklärte der Präsident der Vereinigung der Privatunternehmer in Bolivien, Ronald Nostas, die Bemühungen der Regierung für nicht ausreichend.
Der bolivianische Textilsektor befindet sich seit 2008 in der Krise, ein Handelsüberschuss wurde zuletzt im Jahr 2010 erzielt. 2015 belief sich der Anteil der Branche am Bruttoinlandsprodukt auf 0,9 Prozent, was 451 Millionen US-Dollar entspricht. 2016 lag die Wachstumsrate bei nur 0,4 Prozent. Der Druck auf die bolivianische Regierung steigt, denn der reguläre Textilexport ist extrem wichtig für die Wirtschaft des Landes. »Und auch für den informellen Arbeitsmarkt«, sagt Don Ismael Mamani, ehemaliger Sprecher der Händler für ropa americana, der mittlerweile nur noch neue Strümpfe verkauft. Er ist ein alter Mann mit typischer Chulo-Mütze und wenigen Zähnen.
Er schätzt, dass mindestens 250.000 Menschen, vornehmlich Jugendliche, die keine andere Arbeit finden, direkt oder indirekt am Handel mit gebrauchter Kleidung beteiligt sind. Der informelle Handel mit ropa americana ist auch längst nicht mehr auf die realen Märkte im ganzen Land beschränkt. Auch auf den Verkaufsplattformen in den sozialen Medien konnte er in den letzten Jahren unbehelligt florieren. Dort, wo Produkte in einem Wirrwarr von virtuellen Verkäufern angeboten werden, sind auch Gelegenheitsverkäufer wie Daniela unterwegs.
Die 35-Jährige ist Anwältin, die heute im Rückblick auf das Jahr 2006 zugibt, eine der Vorreiterinnen des Verkaufs von ropa americana über Facebook gewesen zu sein. Als sie nach dem Studium auf Arbeitssuche als Juristin war, widmete sie sich einige Jahre lang dem Online-Verkauf: »Der Berufseinstieg war nicht leicht und das war die beste Option, um in dieser Phase mein eigenes Geld zu verdienen. Damals waren natürlich noch nicht so viele Leute auf Facebook und manchmal habe ich mich geschämt – heute geht das alles anonym.«
Zehn Jahre später hat sich Bolivien stark verändert. 53 Prozent der Bevölkerung haben mittlerweile Zugang zum Internet. Ein Großteil davon sind Stadtbewohner unter vierzig aus der Mittelschicht. Laut offizieller Angaben stieg ihre Zahl von 13 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2007 auf 32 Prozent im Jahr 2017. »Diese Gruppe nutzt den informellen Online-Handel über soziale Medien immer mehr«, so Claudia, eine 27-jährige Unternehmerin, die ihr Wohnzimmer im La Pazer Stadtteil Obrajes in eine improvisierte Boutique verwandelt hat, um von dort aus arbeiten und gleichzeitig ihre einjährige Tochter beaufsichtigen zu können. Auch sie möchte auch nicht fotografiert werden oder ihren echten Namen preisgeben.
Derzeit werden neben Violetas bevorzugten Geschäften auf Facebook und anderen Plattformen Boutiquen beworben, die sich in Büros oder Wohnungen der Zona Sur befinden und die ausschließlich »Premium-Artikel« verkaufen. Außerdem suchen Shopinhaber immer häufiger ganze Outfits und Modelle für diejenigen unter ihren Kunden heraus, die lieber etwas mehr bezahlen und sich dafür die Suche nach den Einzelstücken, beispielsweise in den Läden des Jach’a Qhathu, sparen. Davon weiß Don Ismael aber nichts, er weiß nur, dass sich die Kundschaft in seiner Straße verändert hat. Der französische Soziologe Gilles Lipovetsky erkannte in seinem Buch »Narziss oder die Leere« bereits vor dreißig Jahren, dass Konsumgewohnheiten als Ausdrucksform demokratischer und individualistischer Gesellschaften wirken. Dort gelten sie als »legitimer Ausdruck der persönlichen Identität«. Er machte die Figur des Narziss zum Symbol der zweiten industriellen Revolution. Dabei dachte er natürlich zunächst an die Industrieländer. Dreißig Jahre später gilt die gleiche Zustandsbeschreibung jedoch auch für Bolivien.
Aus dem Spanischen von Christiane Quandt