Was wir nicht hören wollen

Warum wir Rassisten kein Verständnis entgegenbringen dürfen

Seit 2014 sind in sozialen Netzwerken variable Geschlechterzuordnungen möglich. Auch die sogenannten Bindestrich-Identitäten geben uns Hinweise darauf, dass Menschen zunehmend weniger bereit sind, sich etablierten und statischen Identitäten unterzuordnen. Lebensstile pluralisieren sich, wozu nicht nur die plastische Chirurgie, Fast Fashion mit mehreren Kollektionen pro Jahr und eine generell zunehmende Mobilität beitragen. Ob in Form von Pendelexistenzen, bezahlbarem Ferntourismus oder Skype-Parenting gelebt – neue globale Verhältnisse verstricken das Hier und das Dort, das Nah und das Fern neu und münden in unvorhergesehenen Verbindungen und Zusammensetzungen. Was heute das „Wir“ und morgen das „Andere“ ist, ist nicht mehr immer ganz so eindeutig zu bestimmen. Zuordnungen verschieben sich. Die Bezugsrahmen für das, was als „anders“ gesehen wird, diversifizieren sich und zu behaupten, darin sei ein besonderer Typus herausragend, ist auf neue Weise begründungsbedürftig geworden.

Generell beobachten wir eine Verlagerung von kollektiv auf singulär: Typologien und Klassifikationen werden eine Frage persönlicher Identität und ihres normativen Charakters. Was früher als Gruppendifferenz galt und zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führen konnte („die Türken“, „Schwarze“, „Homosexuelle“), wird heute zur individuellen Differenz positiv stilisiert, zum ethischen Imperativ (der „deutsch-türkische Schriftsteller“, der „afroamerikanische Präsident“, die Ausdifferenzierung sexueller Selbstbestimmung). Es fand ein Wechsel von einer negativen Wertigkeit ungleicher gesellschaftlicher Rollen zu einer positiven Wertigkeit der Ungleichheit statt: Nun ist nicht mehr die Freiheit von Homogenität und Uniformität erstrebenswert, sondern es gilt, sich frei zu Heterogenität und Diversität zu verhalten.

Nicht „so sein“ zu müssen, bedeutete etwas, das zu erkämpfen sich lohnte. Wenn es darin bestand, etwa in die Großstadt zu ziehen, um sich von der Dorfgemeinschaft und ihren religiösen und anderen Zwängen zu befreien, werden wir heute eher gezwungen, möglichst individuell zu sein: „customising“ (das ursprünglich die kundenspezifische Anpassung meint) ist dafür ein schöner Begriff, der Waren-Werdung dieser Freiheit wunderbar ausdrückt. Diese Entwicklung erfährt aber nun zugleich eine massive Gegenbewegung. Während wir davon ausgehen, dass im Alltag unterschiedliche Differenzvorstellungen produziert werden, zeigen sich zugleich bestimmte Typologien und Klassifizierungen in der öffentlichen Diskussion, die sich als bemerkenswert resistent erweisen und zu einem handfesten Problem für die Demokratie werden. Während wir längst anerkannt haben, dass unsere Kulturen veränderbar sind, betonen mittlerweile auch Rechtsextreme, dass Identitäten im Fluss sind. Allerdings gilt das ihrer Ansicht nach nicht für alle: Ob Muslime, Roma oder Geflüchtete – deren Kulturen sind im rechten Diskurs noch immer fixiert und dogmatisch. Kurz: Auch Rechte verstehen sich als kosmopolitisch, doch die anderen sind in ihren Augen noch starr an ihre Kultur gebunden. So verschiebt sich rassistischer Diskurs heute.

Er ist also wieder da. Aber was wissen wir über heutigen Rassismus? Das Feld der Forschung und Analysen in Deutschland ist begrenzt. Ausnahmen bilden Studien der Hamburger und Frankfurter Institute für Sozialforschung, des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung und des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, wobei Letzteres vor allem statistische Untersuchungen über den Umfang rassistischer und rechtsextremer Gewalt liefert. Es gibt auch soziale Reportagen. Medien ebenso wie namhafte Schriftsteller haben das Leben von Menschen geschildert, die von Rassismus in Deutschland betroffen sind. Nichtregierungsorganisationen wie etwa amnesty international, Pro Asyl oder die Amadeu Antonio Stiftung tragen ihre Recherche-Ergebnisse seit Jahren in Broschüren und Empfehlungen zusammen. Es existieren zahlreiche Handreichungen für Politik sowie für mediale und zivilgesellschaftliche Organisationen. Sie demonstrieren, dass das Erstarken von Rassismus sich aktuell an der enorm erhöhten Zahl der gewalttätigen Übergriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte ebenso zeigt wie am institutionellen Versagen bei der Aufklärung der Mordserie des NSU.

Trotzdem klafft eine Lücke zwischen den nackten Ziffern der offiziellen Statistik und den Eindrücken der sozialen Reportagen und der politischen Kampagnen. Das ist der Dynamik nach in Deutschland nicht anders als anderswo. Wir beobachten gegenwärtig, dass rechtsextreme Politiken sich unter anderen globalen Bedingungen neu formieren, ihre Artikulationsformen sich in oftmals digitalen Resonanzräumen gegenseitig bestätigen. Der Begriff „Lügenpresse“ etwa ist heute auf Deutsch ein in fast allen rechtspopulistischen Bewegungen verwendeter Begriff, ob in den USA oder Italien. Rassismus, der in rechtspopulistischen Diskursen weit über Europa hinaus mobilisiert wird, ist ein Phänomen, welches sich über längere Zeit hinweg etabliert. Die Proteste gegen den Bau von Moscheen, die Diskussionen über den Sozialtourismus von osteuropäischen Arbeitsmigranten, die Ablehnung gesellschaftlicher Teilhabe für Geflüchtete, all das beginnt nicht mit der Alternative für Deutschland, Marine Le Pen oder der FPÖ.

Ganz im Gegenteil. Solche Stilfiguren spielen auf tief liegende Haltungen und institutionelle Verankerungen an, die sie nähren und von denen sie sich nähren (von Begriffen wie „Flüchtlingslawine“ bis zu den „Profilingfehlern“, die ein Aufdecken der NSU-Mordserie verhinderte). Eine Personalisierung von Politikern als „Rassisten“ hilft deshalb nicht weiter. Noch weniger können wir es uns leisten, so wie bisher Rassismusanalyse einfach als moralisierend abzutun. Das Problem ist eindringlicher. Man kann für eine rassistische Partei stimmen, Rassismus lässt sich aber nicht aus den Köpfen wieder abwählen.

Rassismus kann weder als ein isoliertes Phänomen verstanden werden, noch ist er in sich kohärent. Was aber fast alle seine Spielarten verbindet, ist die Vorstellung, dass Heterogenität entweder der Assimilation unterworfen werden muss (gedacht als „individuelle Anpassungsleistungen“) oder im Sinne älterer Vorstellungen von Reinheit nur in Separation gedacht werden soll („wenn die anderen anders sind, dann bitte woanders“). Darüber hinaus gibt es nie nur ein Anderes; das Andere wird auch immer minderwertig zum „Wir“ gedacht. Und diese beiden vorgestellten Gruppen entkommen der Logik der Vererbung nicht; ihre Herkunft bestimmt stets ihre gesellschaftliche Rolle.

Da der Rassismus je nach Gesellschaft und Zeit viele empirische Erscheinungsformen aufweist und sich in der Geschichte stets erneuert hat, ist das Feld recht unübersichtlich. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht Mittel dagegen gäbe. Wenn wir heute ein Erstarken von Rassismus feststellen und das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien verstehen wollen, dann gibt es zur Orientierung weltweit ausreichend historisches Anschauungsmaterial. In Deutschland sind die rassistischen Ausschreitungen nach der Wiedervereinigung, die Sarrazin-Debatte und die NSU-Mordserie einige der möglichen Beispiele dafür. Erkenntnisobjekte liegen auch da, wo aktuell besonders viel Verständnis jenen gegenüber geäußert wird, die diese Parteien wählen – und wo diese Parteien wiederum in einen demokratischen Konsens eingebettet werden und wo ihre antidemokratische Kraft verkannt wird. Das besser zu verstehen, hilft die Dinge anders zu machen, sie anders zu lesen und anders zu erklären. Am besten auch anders als Anfang der 1990er-Jahre.

Nehmen wir zum Beispiel einen Fall aus dem vergangenen Jahr: die Landtagswahlen in Baden-Württemberg im Frühjahr 2016. In Mannheim-Schönau erobert ein Direktkandidat der Partei AfD die meisten Stimmen – eins von zwei Direktmandaten bei der Wahl für diese Partei, die inzwischen in zehn Landtagen vertreten ist. Der Stadtteil im Norden der Stadt, in dem seit den 1960er-Jahren mehrheitlich die SPD gewählt wird, gerät in bundesweite Schlagzeilen. Es geht um die Frage der Aufweichung sozialdemokratischer Milieus – um ein Phänomen also, das europaweit eine große Rolle spielt. Journalisten von Tageszeitungen machen sich auf, um Wähler der rechtsextremen Partei auf den Straßen in Schönau zu befragen. Niemand hat den Kandidaten der AfD je gesehen und auch deren Parteiprogramm scheint unbekannt. Nur ein Argument überwiegt: Die Geflüchteten, die seit dem Sommer 2015 in Deutschland angekommen sind (und die nicht in dem Stadtteil untergebracht sind), erhielten mehr Aufmerksamkeit und staatliche Zuwendung als „wir“. Wer gegen „die“ ist, ist für „uns“ – diese falsche Gleichung bekommt Geltung in der Stimme für die AfD.

Was Rassismus betrifft, hat Schönau auch eine Geschichte. Im Frühsommer 1992 hatte es dort eine tagelange feindliche Belagerung einer Flüchtlingsunterkunft gegeben. Im Kontext des Anstiegs von Nationalismus und Rassismus Anfang der 1990er-Jahre kam eine relativ hohe Zahl von Geflüchteten nach Deutschland – vor allem aus Kriegsgebieten wie dem ehemaligen Jugoslawien, den Kurdengebieten in der Türkei, dem Irak sowie aus der sich auflösenden Sowjetunion (Letztere als Aussiedler). Die Zahl der Geflüchteten war vergleichbar mit der von 2015. Politisch und medial wurde die Ankunft der Geflüchteten in Deutschland durch den Asyldiskurs flankiert, der schließlich zur Verschärfung des Asylgesetzes 1993 durch eine Stimmenmehrheit im Bundestag führte. Der kommunale Umgang mit den Geflüchteten scheint eine der zentralen Ursachen für die tagelangen Ausschreitungen in Schönau gewesen zu sein: Zum einen existierten logistische Probleme bei der Unterbringung, aber auch migrationspolitische Ursachen spielten eine erhebliche Rolle. Die Bürgerkriegsflüchtlinge wurden in Asylverfahren gedrängt, was die Zahl der Anträge in die Höhe schnellen ließ. So verzahnte sich die bundesweite, oftmals hetzerische Diskussion um Asyl mit der lokalen Situation.

Was geschah damals in Schönau? Nach anfänglichen Beschwerden wegen Lärm wurde medial über Drogennutzung der Geflüchteten spekuliert und ein Gerücht, das sich als unzutreffend erweisen sollte, sein Ziel aber nicht verfehlte, verbreitete sich im Stadtteil: Ein Geflüchteter hätte eine junge Frau in Schönau vergewaltigt. Nach dem Vatertagsfest warfen Hunderte die Scheiben der Flüchtlingsunterkunft ein und drohten den Geflüchteten in Sprechchören stundenlang mit Gewalt. Dieses Szenario wiederholte sich von da an Tag für Tag mehr als eine Woche lang. Die Randalierer kamen aus der Nachbarschaft, es waren keine organisierten Rechtsextreme.

Die Geflüchteten konnten die Kaserne nicht mehr verlassen, einige wurden aufgrund der traumatischen Erfahrung später in die Psychiatrie eingewiesen. Die Polizei reduzierte ihre Arbeit auf den Objektschutz und hielt darüber hinaus Gruppen fern, die sich mit den Geflüchteten solidarisierten. Der damalige SPD-Oberbürgermeister brachte den Ausschreitungen Verständnis entgegen. Nach ihrem Abflauen reagierte die Gemeinde: Die geflüchteten Kindern konnten zur Schule gehen, die lokale Schülerschaft besuchte die Unterbringung, kirchliche Verbände organisierten Fußballspiele, ein Spielplatz wurde errichtet, Kleiderspenden eingereicht. Der Protest ebbte zwar ab, es gab aber weiterhin nächtliche Übergriffe und rassistische Graffiti.

Der Fall hilft, die heutigen aufkeimenden Formen von Ablehnungskultur mit ihren Traditionen zu verstehen. Und auch dabei zu beurteilen, ob es richtig ist, dieser Ablehnungskultur Verständnis entgegenzubringen, wie vielseitig gefordert wird. Der Fall „Schönau“ könnte dieser Lesart nach als Schaustück über „die da unten“ dienen. Die Zuschreibung, dass „die da unten“ nicht besser gebildet sind, es nicht besser wissen oder dass wir arrogant seien, wenn wir sie nicht verstehen wollen, trennt tatsächlich „uns“ von „denen“ und grenzt nebenbei diese „da unten“ still und leise auf Deutsche ein, die wir verstehen müssen.

Unterschätzt wird dabei die politische Instrumentalisierung durch rassistische Diskurse. Es muss Menschen geben, wie im Fall Schönau Anfang der 1990er-Jahre der Bürgermeister oder die Parlamentsmehrheit im Deutschen Bundestag, die dieser Protestform Sinn zusprechen und dabei die Bedeutung dessen erst mit entwerfen. Es ist insofern unsinnig zu behaupten, Rassismus ginge von den „kleinen Leuten“ aus. Vielmehr handelt es sich stets um eine Mischung von denen „nicht ganz unten“ und jenen, die eine soziale Situation auf eine Weise zu instrumentalisieren verstehen, in dem sie „die anderen“ für sie verantwortlich erklären und sich so aus der Verantwortung stehlen. Übereinstimmend haben das die Analysen des Brexit-Votums, der Trump-Wahl und der AfD-Wählerschaft gezeigt, wo eine gute Dosis Rassismus eine wichtige Rolle spielte. Es handelt sich durchweg um die Mittelklasse mit Ängsten vor dem sozialen Abstieg, der verhindert werden soll, um zumindest jenen übergeordnet zu bleiben, die zugewandert sind. Aber bei jenen, die zu instrumentalisieren verstehen, geht es um die Durchsetzung von Führung und gegen einen Staat, der Schwache schützt.

Deshalb sollten wir denen, die den Rassismus instrumentalisieren, kein Verständnis entgegenbringen. Stattdessen müssen wir beginnen, die Probleme anders als rassistisch zu erklären. Das geht. Zumal der Rassismus gar keine Lösungen anbietet, sondern von ihnen absieht. Ein Beispiel: Städtische Wohnungsnot verschwindet nicht, wenn die Geflüchteten weg sind. Die Lösungen müssen woanders gesucht werden – das passiert aber nicht, solange behauptet wird, dass für jedes soziale Problem die Migranten und die Migrationspolitik verantwortlich sind und dass Mauern zu bauen das beste Hilfsmittel etwa gegen den Abbau der sozialen Sicherungssysteme ist. Solche Erklärungen zurückzuweisen ist eigentlich leicht. Und auch nicht schwer ist es dann zu verstehen, dass Rassismus eben nicht nur jene anderen betrifft, die sowieso nicht ganz dazugehören (sollen). Die Frage, wer dazugehören soll, liegt im Kern des Demokratischen in der Demokratie und der demokratischen Auseinandersetzung um die Demokratie. Aus diesem Grund plädiere ich dafür zu entgegnen, „das müssen wir so nicht verstehen“, und zu fordern, „das müssen wir anders verstehen können“.