Rausch

Verbotene Lüste

Pilgerreisen und Gebete, Swingerclubs und Orgien – in Jakarta zeigt sich: Je restriktiver die Gesellschaft, desto wichtiger der Rausch

In meinem Pilateskurs sind wir eine Gruppe von acht Frauen im Alter zwischen 22 und 55 Jahren. Keine kennt die andere besonders gut, aber am Ende der Stunde hat man dann, aus welchem Grund auch immer, doch fast alles voneinander gehört – vor allem über Sex. Man weiß, welche Positionen der Ehemann von A im Bett bevorzugt; dass B es mag, ihre Zehen an den Zehen ihres Mannes vorbeizustrecken, wenn sie sich lieben; und auch zu wie vielen Urologen Cs Mann gehen musste, um wieder „einen hochzukriegen“.

Einige der Frauen tragen Kopftücher und schicken ihre Kinder auf islamische Schulen. Sie sehen sich die Ansprachen religiöser Führer im Fernsehen an und planen ihre jährliche Hadsch-Pilgerschaft mit außerordentlichem Eifer. Außerhalb des Kurses sind sie züchtig gekleidete, ruhige, zurückhaltende Mütter, Ehefrauen, Töchter, Hausfrauen, Berufstätige. Doch im Kurs machen sie nicht nur sexuelle Andeutungen, sondern sprechen in allen Details über ihr Intimleben. Es gibt viele Beckenbodenübungen. Die lieben alle, weil sie die Muskeln stärken, mit denen man das Glied seines Partners fester umschließen kann.

Heute möchte eine der Frauen unbedingt mit mir sprechen. Sie geht auf die fünfzig zu, aber um ihren Körper – zierlich, geschmeidig und bis an die Grenzen des Möglichen durchtrainiert – beneidet sie die gesamte Gruppe. In ihrem Gesicht sind ein paar dezente Eingriffe vorgenommen worden: ein bisschen Botox um die Lippen herum, die Augenpartie leicht geglättet, verdichtete Brauen und verlängerte Wimpern. Und auf einmal platzt es aus ihr heraus: „Weißt du, diese Szene, in die mein Mann mich mitschleppt ...“  – „Was denn für eine Szene?“, frage ich. Sie schaut mich ungläubig an. „Na, die Swingerszene!“ Als müsste ich das selbstverständlich wissen. Dann redet sie los wie ein Wasserfall.

Es ist überraschend einfach, in die Swingerszene eingeführt zu werden, erfahre ich. Voraussetzung ist, dass man einen Insider kennt. Als ich zuhause bin, tippe ich „Swingerszene Jakarta“ in das Google-Suchfenster ein und zwei Sekunden später starre ich auf die Links zu verschiedenen Webseiten mit den E-Mail-Adressen und Anschriften von Kontaktpersonen. Meine Pilatespartnerin fordert mich auf, einer offiziellen Facebookgruppe namens Pasutri, abgekürzt für „Pasangan Suami Istri“ („Ehepaare“) beizutreten. Sie würde dem Administrator Bescheid geben; es sollte kein Problem sein. Ich sehe die Seite der Gruppe, aber trete nicht bei. Jakarta und eine Swingerszene – das ist so eine Sache, deren Existenz ich noch vor ein paar Stunden für undenkbar gehalten hätte.

Ich lerne, dass die Paare online Fotos austauschen, um das gegenseitige Interesse auszuloten. Der nächste Schritt ist das sogenannte „Kennenlernen“. Das kann zum Beispiel eine Verabredung zum Kaffee sein oder ein Dinner zu viert, und wenn wechselseitiges Vertrauen hergestellt wurde, können die Paare direkt zum Hauptereignis übergehen – in einem Privathaus, einer Wohnung oder einem Hotelzimmer. Die Regeln werden zuvor festgelegt: wie viele Paare, wie viele Männer, wie viele Frauen. In manchen Fällen bevorzugen es Frauen, so erzählt mir meine Freundin in der nächsten Pilatesstunde, mit ihrem Ehemann und einem oder zwei anderen Männern Sex zu haben, aber lehnen es ab, dass ihr Mann Sex mit anderen Frauen hat.

Warum sie das macht, frage ich. Es geht um den Rausch, sagt sie – ein wildes, euphorisches, fast irrationales Gefühl, das nur über verborgene Hintertreppen, über gefährliche Umwege erreicht werden kann. Je verbotener eine Sache ist, desto berauschender ist ihre Wirkung. Und in die Sphäre des „Verbotenen“ oder zumindest „Unsagbaren“ fallen in Indonesien viele Dinge, vor allem Sex. Auch wenn der Islam, zu dem sich etwa neunzig Prozent der Indonesier bekennen, zumeist der gemäßigten und synkretistischen Variante angehört, in die lokale und regionale Glaubensformen integriert wurden, ist die indonesische Gesellschaft als Ganze doch nach wie vor ziemlich konservativ.

Moral wird fast immer mit dem Sexualverhalten in Verbindung gebracht und nicht etwa mit politischer Korruption. Die Swingerszene bietet also – frei heraus gesagt – die Gelegenheit, das System zu ficken; von der Norm abzuweichen, sich seine persönliche Insel zu schaffen, aber trotzdem eine soziale Scheinlegitimität zu wahren: Der Ehevertrag bleibt ja bestehen. Es geht wohl auch um die Flucht. Flucht vor der sich ausbreitenden religiösen Intoleranz im Land, Flucht vor der sich radikalisierenden Politik, Flucht vor dem, was Joseph Conrad einmal als die „hoffnungslose Leere in allem“ beschrieb.

Verheiratete Indonesierinnen und Indonesier sind für gewöhnlich sowohl Eskapisten als auch konservative Pragmatiker. Sie rufen bei Anti-LGBT-Demonstrationen vielleicht nicht, dass Analsex unvereinbar mit der indonesischen Staatsphilosophie ist, finden aber womöglich das Motto der konservativen islamischen Gruppierung Family Love Alliance (AILA), „Familiäre Werte stärken“ recht ansprechend. Dennoch will niemand auf den Rausch verzichten. Sowohl Männer als auch Frauen beanspruchen scheinbar zwei eigentlich unvereinbare Rechte für sich – sie träumen gleichzeitig von ständiger Flucht und der Stabilität fester Beziehungen.

Für meine Kursfreundin und ihren Mann ließ dieses Verlangen, so erzählt sie mir, mit dem Alter nicht nach. Ganz im Gegenteil. Seit sie die vierzig überschritten hat, steigert sich ihr Bedürfnis nach dem Ausbruch aus der Normalität, speziell nach Sex, ständig und erreicht jetzt, wo sie 48 Jahre alt ist, einen Höhepunkt. Ihren Mann, der vor fünf Jahren erstmals vorschlug, zusätzliche Sexpartner zu suchen, bezeichnet sie als „hypersexuell“. Dabei war die Suche nach dem Rausch für die beiden nicht immer ein Vergnügen: „Der Gedanke, dass mein Mann mich nur begehrt, wenn er sieht, dass andere Männer mich begehren, war erst mal sehr demütigend“, sagt meine Freundin, während sie sich auf eine Pilatesübung namens „Spinne“ vorbereitet.

Was sich dann verändert habe, frage ich. „Ich fing an, das damit verbundene Risiko zu mögen, den ständigen Flirt mit der Gefahr“, sagt sie und greift nach den Zugbändern für die Armübungen: „Und dann die Variationen! Es ist ein unvergleichliches Gefühl, einen Raum zu betreten, ohne zu wissen, was einen erwartet. Ich werde langsam süchtig nach diesen Myriaden Stufen des Glücks.“ Ihr Gesichtsausdruck ist lebhaft und hat beinahe etwas Anrührendes, während sie nach den richtigen Worten sucht. Der Rausch liege darin, etwas Mysteriöses und Verbotenes zu tun, die unklare Grenze zwischen Macht und Machtlosigkeit zu erforschen: „Für mich fühlt sich Sex oft an wie die höchste Wahrheit, ein Geschenk des Himmels. Denn der Körper lügt nicht. Und guter Sex ist etwas Uferloses. Man entdeckt jedes Mal etwas Neues.“

Ich lege mich bäuchlings auf die Turnmatte. Als Indonesierin mit Wurzeln in Java und West-Sumatra, die sowohl in Bescheidenheit und Zurückhaltung als auch in zupackendem Selbstbewusstsein geschult ist – ein Überbleibsel der matriarchalischen Kulturen auf den Inseln –, frage ich mich, ob mich die Existenz einer Swingerszene in Jakarta wirklich überraschen sollte. Auf Java kursierte schon vor 200 Jahren das Buch von Centihini, eine Enzyklopädie des Lebens, die von wilden Orgien erzählt, vom Sex mit Tieren und allen erdenklichen Arten erotischer Eskapaden und verbotener Lüste. Noch älter sind Dorfrituale wie die Tayub-Parade, bei der freizügig gekleidete Frauen spielerisch Männer verführen. Andererseits gibt es so viele Geschichten von Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Frauenfeindlichkeit – erst vor einigen Wochen wurden zwei prominente Frauenrechtsaktivistinnen auf den Straßen von Jakarta sexuell belästigt. Vielleicht sind diese Widersprüche nicht neu, es hat sie immer gegeben.

Als ich meine Freundin das nächste Mal sehe, ist sie kurz davor, mit ihrem Mann nach Singapur zu reisen. Sie planen, sich mit zwei Paaren zu treffen, die sie gut kennen. Eine der Frauen, merkt sie gehässig an, ist nicht besonders versessen darauf, bei der Orgie mitzumachen: Sie würde lieber mit ihren Geschwistern auf die kleine Pilgerfahrt, die Umra, nach Mekka fahren – das spirituelle Gegenstück zu dem sexuellen Rausch, den meine Freundin bevorzugt.

„Ich verstehe diesen religiösen Wahn nicht“, sagt sie kopfschüttelnd. „Ich finde ihn so banal, so langweilig.“ Ich entgegne, dass ein Rausch ein Rausch ist; nicht jeder hat das Geld oder ist unverklemmt genug, um zu tun, was sie tut. Nicht, dass sie nicht einen Weg finden werden. Es ist schon seltsam, wie jeder das Bedürfnis nach seiner eigenen sündhaften Geschichte hat.

Aus dem Englischen von Caroline Härdter