Rausch

Krank, nicht kriminell

In den 1990er-Jahren waren über 100.000 Portugiesen heroinabhängig. Über Suchtbekämpfung mit neuen Methoden

Vor mehr als 26 Jahren, am Beginn meiner journalistischen Laufbahn, bekam ich den Auftrag für eine Reportage im Lissaboner Stadtteil Casal Ventoso, der vorwiegend von Seeleuten bewohnt war. Ich begleitete eine Zivilbrigade der Polizei für öffentliche Sicherheit (PSP), die in diesen Vierteln patrouillierte, als wäre die Stadt im Kriegszustand. In dieser Nacht konnte man hektische, Joint rauchende Polizisten dabei beobachten, wie sie Anwohner anhielten und mit der Waffe im Anschlag durchsuchten. Nach Casal Ventoso gelangte man, wenn man die Rua Maria Pia überquerte, die den heruntergekommenen Stadtteil Campo de Ourique mit einer der beliebtesten Gegenden der Lissaboner Mittelschicht verbindet.

Von außen kündete nichts von dem Spektakel, das wir gegen zwei Uhr morgens vorfinden sollten: In den Straßen waren Hunderte Menschen unterwegs, es ging zu wie auf einem gut besuchten Jahrmarkt. Der einzige Unterschied war, dass diese Passanten herumliefen wie Gespenster. Schätzungen zufolge kamen etwa 5.000 Menschen täglich nach Casal Ventoso. Man orientierte sich hier nicht an Straßennamen, sondern daran, welche Drogen wo zu bekommen waren. Und jede neue Drogenlieferung wurde durch Feuerwerkskörper angekündigt. Und obwohl die Polizei in Zivilfahrzeugen unterwegs war, waren immer schon alle von Spähern gewarnt worden, wenn die Beamten ankamen. Wir parkten neben einer Brache. Dort lagen die Junkies und schliefen im Regen ihren Rausch aus. Die Polizisten rissen das Zelt auf und fanden zwei bewusstlose junge Frauen vor, die, nachdem sie mühsam geweckt worden waren, aussagten, sie seien Krankenschwestern und hätten Heroin genommen.

In den 1990er-Jahren waren mehr als 100.000 Portugiesen heroin- oder opiatabhängig. Die Droge hinterließ tiefe Narben in der Gesellschaft und forderte immer mehr Opfer, bis Portugal seine Drogenpolitik änderte: Seit dem Jahr 2000 werden Drogenabhängige in Portugal nicht mehr als Verbrecher behandelt, sondern als Menschen mit einem Gesundheitsproblem. In Artikel 2 des portugiesischen Gesetzes 30/2000 vom 29. November 2000 heißt es: „Der Konsum, Kauf und Besitz zu Konsumzwecken von Pflanzen, Substanzen oder Zubereitungen, die in den Listen des vorhergehenden Artikels aufgeführt sind, stellen eine Ordnungswidrigkeit dar.“

Das bedeutet, dass der Besitz von Drogen zum Konsum nur mit einem Bußgeld bestraft wird; zusätzlich muss die betreffende Person vor einer Kommission vorsprechen, die eine Behandlung der Suchtkrankheit in die Wege leitet. So erging es auch João, einem fast fünfzigjährigen Wissenschaftler. Er war auf dem Weg zu einem Konzert und die Polizei sah, wie er einen Joint rauchte. Als Ersttäter bekam er keine Geldbuße, aber er musste vor die Kommission. Was ihn an diesem Gespräch besonders ärgerte, war die Bemerkung des Psychologen, in seinem Alter sei es doch „wenig sinnvoll, Drogen zu konsumieren“. Im Jahr 2015 mussten pro Monat etwa 1.500 Drogenkonsumenten genau wie João bei der Abschreckungskommission in Lissabon vorsprechen.

Der Staatsanwalt António Pais war lange Zeit an Gerichten mit vielen Drogenfällen wie dem im Verwaltungsbezirk Sintra tätig gewesen. Er hat keinen Zweifel daran, dass den Gerichten durch die Reform zahlreiche Fälle von Drogenabhängigen erspart bleiben, aber er möchte nicht dafür garantieren, dass auch der Drogenhandel abgenommen hätte. „Meiner Ansicht nach wurde sogar weniger in die Bekämpfung des Drogenhandels investiert. Die Kriminalpolizei gab diese Verantwortlichkeit an die Gendarmerie und die Polizei für öffentliche Sicherheit ab. Die Kriminalpolizei kümmert sich jetzt nur noch um die großen internationalen Drogennetzwerke.“

Heute ist der Stadtteil Casal Ventoso vollständig umgekrempelt. Weiter unten an der Straße wurde eine Wohnsiedlung errichtet. Und den Drogenhandel findet man nur noch in einem kleinen Teil des Viertels Meia Laranja, wo noch immer Autos mit Drogenlieferungen durchfahren. Aber auch in anderen Teilen Lissabons hat sich einiges verändert, selbst in ärmeren Vierteln des Zentrums trifft man auf Touristen. Auf dem Largo do Terreirinho im Osten der Stadt sind an einem lauen Abend nur wenige Passanten unterwegs. Hinter einem Baugerüst entsteht ein weiteres Hostel. Ganz in der Nähe des Platzes verkauft Custódio Haschisch.

„Ich verkauf’ nur Hasch“, betont er. Er ist zwanzig Jahre alt und seit seinem 16. Lebensjahr im Geschäft. „Ich hatte es satt, dass nur die anderen Geld verdienten, ich wollte das auch“, sagt er. Er wohnt noch zu Hause. Seiner Mutter ist sein Job nicht geheuer und der Vater lebt nicht mehr. „Es reicht zum Überleben und ich kann sogar meine Mutter unterstützen“, rechtfertigt er sich. Er kann sich nicht mehr an die Zeit erinnern, als der Drogenkonsum strafbar war. „Ich war damals vier“, lacht er. Einen Plan B für sein Leben habe er nicht. „Ich hab’ versucht, noch mal zur Schule zu gehen, aber in meiner Altersklasse gibt es nur Abendkurse. Das geht nicht bei meiner Arbeit.“ Er verkauft ein kleines Stück Haschisch für fünf Euro. Andere Dealer in der Nähe besorgen einem jede Droge.

Einen kleinen Stein Crack gibt es für zehn Euro. Die Süchtigen des Stadtteils brauchen etwa vier Dosen pro Tag. So auch Sandro, der täglich das Gebiet um den Largo do Intendente durchstreift und schnorrt. Er und eine andere Süchtige sind die hartnäckigsten. In wenigen Stunden wird man zwei- bis dreimal von ihnen angesprochen. Zu Beginn erzählte er noch eine Geschichte, er habe seinen Geldbeutel verloren und bräuchte Geld für den Bus nach Hause. Jetzt sagt er nichts mehr und beschränkt sich darauf, um Geld zu bitten. Zum Crack-Rauchen geht er in die Eingänge der U-Bahn, um der Kälte zu entkommen. Die Geschichte des Viertels um den Largo do Intendente kann ausgehend von Haus Nummer 262 in der Rua do Benformoso erzählt werden. Hier befand sich, nach Aussage einer älteren Dame, einst ein Luxusetablissement, wo sie selbst arbeitete. In dieses Viertel kamen bis in die 1970er-Jahre die Kunden aus dem ländlichen Lissaboner Umland zu den ansässigen Prostituierten.

Es folgten alsbald Drogen und sowohl das Haus als auch die Prostitution bekam ein neues Gesicht; nun drehte sich alles um die tägliche Dosis. Vor weniger als fünf Jahren, als der derzeitige sozialistische Premierminister António Costa Bürgermeister von Lissabon war, zog die Stadtverwaltung an den Largo do Intendente um, was die Gentrifizierung des Viertels einläutete. Szenebars und Modegeschäfte öffneten ihre Türen. Dieser Prozess beschränkte sich aber auf das Zentrum des Viertels um den Platz; in der Rua do Benformoso, die zum Platz führt, finden sich weiterhin Rotlichtbars, Restaurants mit bangladeschischer Küche, Halal-Fleischer und Krämerläden. Die Polizeipräsenz ist nur sichtbar, wenn es um Identifikation von Migranten oder die Durchsetzung der Sperrstunde in den Bars geht. Darüber hinaus geht das Leben wie gehabt weiter.

Der portugiesische Koordinator des Kampfs gegen die Drogen João Gulão gilt als Vater der Gesetzesreform von 2000. Seine Bilanz fällt vorsichtig aus: „Der erste kritische Punkt liegt darin, dass die Entkriminalisierung nur ein Aspekt der zahlreichen nationalen Maßnahmen zur Bekämpfung von Drogen ist. Man kann sie kaum unabhängig von Prävention, Behandlung und Wiedereingliederung betrachten. Diese wurden mit der Entkriminalisierung und dem Verständnis von Drogensucht als soziales und gesundheitliches Problem anstatt als Verbrechen nur besser aufeinander abgestimmt.“ Gulão leugnet dabei nicht, dass sich die Lage durchaus verbessert hat: „Infolge der ganzheitlichen Politik entwickelt sich die Sache positiv, der Konsum illegaler Drogen unter Jugendlichen geht zurück, der Rückgang des Drogenkonsums durch Injektion führt zu einem Rückgang von Infektionskrankheiten, die über die Kanülen übertragen werden, und die Stigmatisierung von Drogenkonsumenten wird schwächer.“ Fragt man ihn, ob er über die Entkriminalisierung hinausgehen würde, antwortet Gulão ablehnend: „Wir sind schon so weit gegangen, wie es innerhalb des prohibitionistischen Paradigmas möglich ist, das den von Portugal unterzeichneten internationalen Verträgen zugrunde liegt.“

Dennoch beobachteten sie aufmerksam die Fälle der Freigabe von Cannabis in Uruguay und in einigen Staaten der USA. „Dort finden aktuell soziale Experimente statt, die es sich langfristig zu beobachten lohnt, denn in Portugal zeigen sich erst heute, 15 Jahre später, die Ergebnisse der neuen Drogenpolitik“, sagt Gulão. Obwohl die Zahlen besagen, dass mehr als 40.000 suchtkranke Menschen seit Inkrafttreten des neuen Drogengesetzes rehabilitiert wurden, ist noch viel zu tun. Paula Maria, die sich für den straffreien Konsum und Besitz von Cannabis engagiert hat, findet nicht, dass die Gesetzgebung den Drogenhandel bekämpft. „Nur der legale und kontrollierte Drogenverkauf wird einen Großteil dieses Problems lösen können und die Gesundheitsrisiken der Konsumenten minimieren.“

Aus dem Portugiesischen von Christiane Quandt