Die Schönheit zunehmender Trunkenheit
Im Trinken ausschweifen oder die Welt hinter sich lassen: Rausch hat viele Facetten
Wegen eines Literaturfestivals halte ich mich in einer fremden Stadt auf und bin in meinem Hotel oder irgendwo in der Kneipengegend, als ich Simon (das ist nicht sein wahrer Name) kennenlerne. Nach mehreren Drinks lädt er mich zu einer Party im Norden der Stadt ein, ein sehr exklusives, privat organisiertes Event in einem Lagerhaus mit Livemusik, vor allem aber mit den „besten Drogen der Stadt“ – und vielleicht weil die Stimmung in unserer jetzigen Bar alles anders als angenehm ist, nur TV-Lärm und penetrante Männerrunden, vielleicht aber auch weil Simon jemand ist, den man fraglos einen ‚netten Typen‘ nennen könnte, folge ich ihm hinaus in die Nacht auf der Suche nach einem Phantomglück, an das ich mich noch erinnere, auch wenn ich derlei längst aufgegeben habe. Natürlich hegen wir alle unsere Begehrlichkeiten, unsere inneren und nicht unbedingt bewussten Pläne: Er hofft, „high“ zu werden, die Ekstase, ein Abenteuer zu erleben, eines zu sein, eine hellere, womöglich aber auch dunklere Welt zu entdecken, wohingegen ich mich „aus allem ausklinken“ möchte. Es erübrigt sich wohl die Feststellung, dass dies zwei völlig verschiedene Bestrebungen sind.
Auf dem Weg zu unserem mysteriösen Rendezvous (wir sollen eine „junge Frau“ treffen, die Simon unter dem Namen Alex kennt und die uns die genaue Adresse nennen wird) schauen wir in Simons Wohnung vorbei, um „vorzuglühen“, wie er es nennt – und ich möchte gleich das Karussell anhalten und absteigen, so sehr fasziniert mich die saubere, helle Küche, alles aus Kiefer und Stein, die hohen Gläser mit Eingemachtem in den Regalen, vor allem aber die fantastische Auswahl an Hochprozentigem in der Bar. Womit ich die Zigarrenkiste noch gar nicht erwähnt habe, die randvoll mit Gras auf dem Frühstückstresen steht und mich vage an das Cover von „Long John Silver“ erinnert, dem 1972er-Album von Jefferson Airplane – und obwohl ich weiß, dass es kaum besonders cool ist, kann ich die nächste Stunde oder so nicht aufhören, darüber zu reden, wie gut mir die Wohnung gefällt, wodurch ich mich derart von der üblichen Höflichkeit entferne, dass es Simon unbehaglich zumute wird. Vielleicht verbucht er meine Begeisterung fürs Dekor unter „kindische Ironie“ oder „zunehmende Trunkenheit“, dabei ist es ja nicht mal seine Küche, gehört sie doch zur Einrichtung der teuren Mietwohnung. Außerdem will er weiter, will Alex treffen, also nehmen wir uns noch ein Taxi, fahren zum Lagerhausviertel, in dem wir bald durch Nebenstraßen ziehen; aus einem der Ziegelhäuser dringt Musik, am Himmel der Mond, überall silbriges Licht, Passanten, die stehen bleiben, manchmal, um zu reden oder um uns einen Joint anzubieten, nur keine Alex weit und breit, anfangs jedenfalls nicht.
Ich möchte eigentlich zurück in Simons Küche, und es tut mir leid, mich auf diese sinnlose Suche gemacht zu haben, doch behalte ich auch meinen neuen Freund im Auge, der mir immer mehr wie ein Mann vorkommt, den es zu sehr danach verlangt, einen Ort zu erreichen, den es meiner Meinung nach gar nicht mehr gibt. Ich bin mir nicht sicher, ob Simon ihn sich derart vorstellen kann, nur wird er nicht hier sein, nicht dort, wo wir warten, nicht mal, als Alex endlich auftaucht. Sie ist hübsch, knabenhaft, mit kurzem Haar und einem vorsichtigen, recht starren Gesichtsausdruck, der zeigen soll, dass sie sich von niemandem zum Narren halten lässt, die Art junge Frau, die ich attraktiv, aber auch zutiefst verstörend finde. Allerdings ist Alex nicht hier, um zu reden; sie muss wohin, muss Leute treffen. Schade vielleicht – nur hat all das hier nichts mit ihr zu tun. Es geht ums Warten, um die Dunkelheit über unseren Köpfen, vor allem aber geht es um die Aussicht auf etwas Reales. Die Aussicht darauf, „high“ zu sein, eine Zeitlang, eine schöne Romanze in der Nacht, die nicht von Dauer und dafür umso schöner ist.
Was prima ist, nur bin ich nicht hier, weil ich „high“ werden will, nicht, weil ich eine Romanze suche oder die Gesellschaft von Wegbegleitern, und auch nicht, um zu tanzen und im Dunkeln Gras zu rauchen. Eigentlich bin ich überhaupt nicht richtig hier, da ich nicht „aus mir heraus“, sondern ganz „bei mir“ sein will. Möglicherweise verrät das nur mein Alter, aber keine halbe Stunde, nachdem wir an unserem Ziel angekommen sind – im Grunde kein Lagerhaus, sondern ein schummeriger, widerhallender Saal mit einer provisorischen Bühne an einem Ende und einem Tresen am anderen Ende, an dem man sich zwanglos selbst bedienen kann. Simon tanzt irgendwo, ich sitze in einer Ecke in einem Sesselwrack und verfolge den Verlauf der Nacht, dem Schlaf so nahe, doch zugleich überraschend wach für all die Nuancen und Veränderungen der Stimmung, einsam und zurückgezogen an einem inneren Ort, wie man ihn selten nur inmitten einer großen Menge findet. Vielleicht wäre ich besser gleich zu Hause geblieben, nur ist, um ein Zitat von Robert Frost abzuwandeln, das Zuhause jener Ort, an dem, gehst du hin, die weite Welt dich zu finden weiß.
Perser, Japaner, Griechen, Römer – die alten Dichter wussten es alle, aber keiner besser als die Dichter der chinesischen Tang-Dynastie. Ja, es ist ein Tang-Dichter, den wir (dank Hans Bethges deutscher Übersetzung) hören, wenn der Tenor in Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ singt: „Lasst mich betrunken sein!“ Es ist der größte aller Tang-Trunkenen, Li Bai, der „außer sich“ ist (eine wirklich aufschlussreiche Floskel) und uns dadurch daran erinnert, dass es bei wahrhafter Trunkenheit, bei Trunkenheit um ihrer selbst willen, weniger darum geht, die Sinne zu verlieren, als darum, bei sich zu sein:
Erwachen vom Rausch an einem Frühlingstag
Das Leben in der Welt ist nur ein großer Traum;
ich mag ihn durch Arbeit oder Sorgen nicht verderben.
Sprach’s und war trunken den ganzen Tag,
lag hilflos auf der Veranda vor meiner Tür.
Beim Aufwachen blinzelte ich über den Rasen,
inmitten der Blumen sang ein einsamer Vogel.
Ich fragte mich, war der Tag verregnet oder schön?
Der Frühlingswind verriet es dem Pirol.
Sein Gesang ließ mich bald seufzen
und da es Wein gab, füllte ich mir nach.
Wartete lauthals singend, dass der Mond aufging.
Nach der letzten Strophe waren mir
alle Sinne geschwunden.
Zu diesem Gedicht ist mehreres anzumerken, ehe etwas zu dem gesagt werden soll, was es uns hinsichtlich der Trunkenheit verrät. Zum einen ist da jene Abweisung des Weltlichen (das Leben in der Welt), wie sie so typisch für viele chinesische Dichter ist. Der Trunkene im Gedicht könnte ebenso der Konsul aus Malcolm Lowrys „Unter dem Vulkan“ sein, diesem hervorragenden Roman über den Rausch. In beiden Fällen sucht der Trinker die Flucht, nicht allein aus ermüdender öffentlicher Rolle, sondern gleich aus dem ganzen weltlichen Reich, um in einem authentischen, innerlichen, ekstatischen Zustand zu verweilen, in den die Welt nicht vordringen kann. Warum? In unserer heutigen Zeit würden wir vielleicht sagen, dass dieses weltliche Reich verzichtbar ist, konsumorientiert und politisch in katastrophalem Maße fehlinformiert; ich bin mir sicher, Li Bai hätte ähnliche Klagen vorgebracht. Doch verliert der trunkene Fluchtpoet in dieser Transaktion (und niemand ist sich dessen bewusster als er selbst) die Authentizität der Natur: das Wetter an jenem Nachmittag, den Gesang der Vögel. Von weltlicher Kontrolle bedrückt sucht er die ekstatische Flucht, die ihn jedoch nur allzu oft dessen beraubt, was die Natur bieten kann, und, um einen Satz Jesu abzuwandeln, der wohl auch gern ein, zwei Gläschen getrunken hat: „Was hülfe es dem Menschen, so er die eigene Seele gewönne und nähme Schaden an der ganzen Welt?“
Aus dem Englischen von Bernhard Robben