Rausch

Das verzückte Spiel der Körper

In den Sufi-Schreinen Pakistans tanzen sich Frauen in Entrückung. Radikalen Islamisten ist das ein Dorn im Auge

Die Bühne ist bereitet. Eine Szenerie voller schillernder Gestalten tut sich auf, als eine Handvoll Polizisten sich einen Weg durch die versammelte Menge bahnt, um den Strom der Besucher des Schreins am Fließen zu halten: Chai-wallahs, die den Pilgern Tee verkaufen; Trommler, die, wie schon ihre Eltern vor ihnen, ihre Plätze an den mit Kupfer bespannten Pauken eingenommen haben; Heilerinnen und Auftragsfotografen, die auf Kundschaft lauern. Der Vorhof aus weißem Marmor, der zum kunstvoll geschnitzten Holztor führt, ist zum Bersten voll mit Menschen. Die Luft ist angefüllt mit Erwartungen. Dann, beim ersten Schlag der Trommeln, fällt die Menge in lauten Gesang. Die Musiker stimmen eine Melodie an und innerhalb von Sekunden verbreitet sich im ganzen Innenhof Ekstase.

Ein Klanggewirr aus Trommeln, Rohrflöten, Schreien und Gesang; ein Gewimmel aus Körpern, Gewändern und Haaren. Männer hüpfen mit hochgerissenen Armen auf und nieder. Im gleichen Hof gegenüber schaffen sich Frauen Platz und bewegen sich in präzisen kreisförmigen Bahnen. Bald rutschen ihre wallenden Schaltücher herunter, die normalerweise ihre Köpfe zieren. Gewelltes, langes Haar kommt zum Vorschein. Mit einem Blick erfasst man die Körper von Frauen, Kindern, jungen Männern und transsexuellen Besuchern; hier gibt es Schlangenbeschwörer und Prostituierte, Hindu-Gläubige und schiitische Trauernde, umherziehende Fakire und Kleinhändler, Dorfbewohner wie Städter. Das hier ist Pakistan in seiner ganzen Vielschichtigkeit. Und was für Auswärtige vielleicht am verwunderlichsten ist: Das hier ist Alltag.

Jeden Abend, wenn die Sonne hinter dem Massiv des Kithar-Gebirges versinkt, strömen am westlichen Ufer des sagenumwobenen Flusses Indus Hunderte Menschen am Heiligtum von Sehwan zusammen. Es ist ein uraltes Pilgerzentrum zur Verehrung von Shiva, das von 700 Jahren Sufi-Erbe gekrönt wird. Sein Schutzheiliger Lal Shahbaz Qalandar (1177–1275) verkörpert den Weg der Sufis, den mystischen Weg im Islam, der untrennbar mit dem muslimischen Glauben verbunden ist. Der märchenhafte Schrein befindet sich in einer achteckigen Halle unter einer glänzenden Kuppel. Das silberbeschlagene Grab ist in unzählige Lagen von Samt und Seide gehüllt, stechend parfümiert mit Ölen und von fünfzig Energiesparlampen beleuchtet.

In dieser Gegend Pakistans verehren Hindus, Muslime und Christen bis heute eine rätselhafte Person, die viele Geschichten und Identitäten in sich vereint: eine uralte Flussgottheit, die auf Fischen reiten konnte; einen Schia-Missionar des 13. Jahrhunderts; einen umherziehenden widersprüchlichen Sufi, der in der Gestalt eines Falken zum Himmel aufstieg. Doch nichts eint die Gläubigen mehr als sein Ruf, „mast“ zu sein, entrückt, im Rausch. Und nichts kann diesen göttlichen Rausch besser zum Ausdruck bringen als das verzückte Spiel der Körper in „dhamal“: Vierzig Minuten lang bewegen sich Frauen und Männer jeden Tag im Rhythmus der Trommeln und schaffen eine sinnlich-aufgeladene Atmosphäre.Frauen sind an Heiligtümern Stammgäste und übersteigen besonders in diesem Teil des Landes zahlenmäßig meistens die Männer.

Sie sind integraler Bestandteil der täglichen Rituale. Meist kommen sie aus den Dörfern oder sind den unteren Einkommensgruppen zuzurechnen, es lassen sich aber auch wohlhabende Städterinnen blicken. Überall in Pakistan suchen Frauen Schreine auf, um Opfergaben darzubringen, singend zu preisen, zu klagen, Heilung zu finden und manchmal auch einfach, um sich vom Tag zu entspannen. Doch wenn sie in der Öffentlichkeit die Kontrolle über ihre Körper verlieren, nimmt man an, dass sie den Zustand „haziri“ (Präsenz) erreichen. Dies sind außergewöhnliche Momente, in denen böse Geister durch den verführerischen Klang der Trommeln in den Einflussbereich des Heiligen gelangen, der sie, wie man weithin glaubt, auf dem Weg über die Haare aus den Frauenkörpern vertreibt. Laut den Aussagen von Frauen dauert das manchmal Jahre. Mit den Geistern fertig zu werden, ist für Frauen und ihre Familien oft eine lebenslange Aufgabe. Beim genaueren Hinsehen erkennt man, dass sie von anderen Frauen und männlichen Verwandten begleitet werden, die sie bei ihren körperlichen und emotionalen Grenz-erfahrungen unterstützen.

Man kann auch beobachten, dass die Kopftücher nicht immer von selbst fallen und wie Familienmitglieder den Frauen helfen, ihre Zöpfe zu lösen. Die Helfer deuten die Äußerungen des Geistes und begleiten die Frauen, wenn das Ritual sich dem Ende zuneigt, bei ihrer Rückkehr in den normalen Zustand. Wenn die Musik aufhört zu spielen, fallen die Frauen erschöpft, verschwitzt und erledigt zu Boden, oft sind sie kaum noch bei Bewusstsein oder ohnmächtig. Nach und nach erlangen sie ihre Fassung wieder. Angehörige helfen, die Haare neu zu flechten,  und bald sind auch die Schaltücher wieder auf den Köpfen. Wenig geschieht hier willkürlich oder zufällig. Viele Frauen kommen regelmäßig, um zu lernen, die Geister zu beherrschen. Andere reisen von Schrein zu Schrein durch das ganze Land und probieren auf ihrer Route der spirituellen Heilung verschiedene Heilige aus.

Für viele Menschen in Pakistan sind Heilige das A und O des Alltags. Ihre Schreine befinden sich gewöhnlich an alten Pilgerstätten. Diese Verbindung schafft einen nahtlosen Übergang von den Göttern und Dämonen einer alten Welt zu neuen religiösen Vorstellungen. Heilige Landschaften erwachen zum Leben, die durch Flüsse und Berge, Höhlen und Quellen sprechen können. Heilige sind in der islamischen Vorstellung nicht heiliggesprochene Tote, sondern Freunde von Allah, die über ihren Tod hinaus weiter auf die Welt der Lebenden Einfluss nehmen. Schreine sind Schwellen, sogenannte „dargah“ (Eingänge), die das Hier mit dem Anderswo verzahnen. Für Gläubige sind es Orte des emotionalen Austausches und der seelischen Erlösung. Für soziale Randgruppen eröffnen sich hier Chancen, angenommen zu werden. Und für viele andere in diesem weithin abstinenten Land, in dem der Genuss von Cannabis jedoch verbreitet ist, bietet sich eine Möglichkeit, sich auf legale Weise zu berauschen. Als Wirtschaftszentren generieren Schreine enorme Einnahmen, sorgen mit freiem Essen, Heilbehandlung und Unterkunft für eine parallele Wohlfahrtsstruktur.

Seit einem Modernisierungsprojekt in den 1960er-Jahren, das auch das Ziel verfolgte, den politischen Einfluss der traditionellen Hüter der Heiligenschreine einzuschränken, genießen die Schreine staatlichen Schutz. Als religiöse Stiftungen haben sie den Zugang zu ihren Heiligen demokratisiert und die pluralistischen Lebenswelten systematisch gefördert. Doch das hatte auch unerwartete Folgen. In den letzten zehn Jahren sind immer wieder bekannte Schreine zum Ziel für militante und radikale Islamisten-Netzwerke geworden, die darin eine Fortsetzung ihres Kampfes gegen den Staat sehen. So verlockend es auch sein mag, diese Anschläge auf Schreine lassen sich nicht durch eine vereinfachende Linie zwischen weichem und hartem Islam erklären. Sie sind gleichermaßen spektakulär und symbolisch. Wann immer Frauen, Männer und Transgender verschiedener Glaubensrichtungen zusammenkommen, um sich  gemeinsam einem Heiligen rituell ekstatisch hinzugeben, tun sie dies auch unter der Ägide des Staates.

Schreine sind in Pakistan, was Moscheen nicht sind: heterogen und multireligiös. In einem Land, in dem Moscheen zunehmend zu maskulinen und konfessionsgebundenen Orten werden, die dem rituellen Gebet vorbehalten sind, lässt sich der politische, emotionale und inklusive Charakter der Schreine nicht übersehen. Pluralistische Vorstellungen des Göttlichen, die sich in Schreinen repräsentieren, sind in einem nationalen Kontext, der auf dem Bruch mit der polytheistischen Welt der Hindus aufbaut, zutiefst verunsichernd. Als für die Gesellschaft unnütze Außenseiter werden Sufis in Pakistan zur Zielscheibe gesellschaftlicher Kritik, auch weil sie zu hinduistisch sind, um muslimisch sein zu können, oder einfach  weil ihr sanfter Islam „vom Westen“ kopiert wird.

Es ist jedoch auch nicht hilfreich, in binären Begriffen zu denken und von einem Islam der Moscheen und einem Islam der Schreine zu sprechen, denn oft genug verschwimmen solche Linien in der Praxis. Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Ablehnung von sufischen Normen und Praktiken in muslimischen Gesellschaften eine ebenso lange Historie aufweist wie der Austausch und die Verbindung mit ihnen. Pakistans Heilige und ihre Schreine sind zwar Angriffen ausgesetzt, doch es gibt so viele Schreine, dass man sie kaum zählen kann. Ihre unbändigen, rauschhaften und mitreißenden Lebenswelten sind umstritten, aber allgegenwärtig.

Aus dem Englischen von Karola Klatt