„Arbeitstier und Serien-Zombie“
Warum obsessives Fernsehen die Droge der kapitalistischen Gesellschaft ist. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller
Herr Baram, Karl Marx prägte einst den Satz „Religion ist das Opium des Volkes“. Was ist das Opium unserer heutigen kapitalistischen Welt?
Die Obsession unserer Zeit sind Fernsehserien. Die meisten meiner Freunde arbeiten von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends, um mit dem immensen finanziellen Druck und der ständigen ökonomischen Unsicherheit, die unser kapitalistisches System ausmachen, fertig zu werden. Sie sind so mit Arbeit eingedeckt, dass sie keine Zeit mehr haben, zu lesen oder nachzudenken. Als ich jünger war, habe auch ich versucht, mich vor dem Nachdenken zu drücken, indem ich leidenschaftlicher Spieler wurde.
Drogen erfüllen den gleichen Zweck. Eine andere Möglichkeit der Flucht bieten Fernsehserien, die man sich in Marathonsitzungen obsessiv reinziehen kann. Sie haben ein viel höheres Suchtpotenzial und helfen besser beim Verdrängen als viele Drogenarten. Es geht um Kompensation. Kokain ermöglicht für ein paar Stunden der Welt zu entkommen, mit einer Fernsehserie können Sie tage- oder wochenlang in eine alternative Welt abtauchen.
Wie entsteht dieser Druck?
Im Gegensatz zu Ideologien wie dem Faschismus, der nach Loyalität verlangt, stellt der Kapitalismus es den Menschen völlig frei, woran sie glauben wollen. Zwischen Beruf und Überzeugungen wird strikt getrennt. In der Generation meines Vaters hätte man als Gewerkschaftsführer nicht gleichzeitig für IBM gearbeitet. Es gab noch dieses Ideal, dass das Leben Ausdruck der Überzeugungen zu sein hatte, auch wenn es natürlich einige Irrläufer gab.
Heute ist es völlig akzeptabel, morgens für Google zu arbeiten und abends gegen genau dieses System zu demonstrieren. Deshalb greift der Widerstand gegen den Kapitalismus das System nicht wirklich an. Es erzeugt jedoch enormen Druck und eine fortwährende Situation wirtschaftlicher Unsicherheit. Meine Generation in Israel hat so einen geradezu paranoiden Geisteszustand erreicht: Man malt sich ständig den eigenen Untergang aus.
Welche Folgen hat das?
Aus der Verbindung von Arbeitstier und Serien-Zombie entsteht eine Art unreflektierter Existenz, die es nicht erlaubt, sich politisch zu betätigen oder das System infrage zu stellen. Deswegen ist der Kapitalismus genial: Er absorbiert den Widerstand. Auch nach der Finanzkrise im Jahr 2008 hat sich das System nicht verändert. Niemand will zwölf Stunden täglich arbeiten. Das ist kompletter Blödsinn. Hier sollte der Staat oder die Regierung eingreifen und etwas für das Leben der ganz normalen Leute tun.
Glauben Sie, das wird immer so weitergehen, oder gibt es eine Gegenbewegung?
Ich glaube fest daran, dass sich das ändern wird. Überall auf der Welt scheint es Initiativen dagegen zu geben. Gewerkschaften verhandeln ständig über diese Dinge. Es geht dabei nicht um die Bezahlung. Die Wahl Donald Trumps in den USA und die Volksabstimmung für den Brexit zeigen gut, dass heute nicht die Vision einer besseren Zukunft gewählt wird, sondern mit dem Votum lediglich die bestehende Weltwirtschaftsordnung erschüttert werden soll. In diesen beiden Abstimmungen ging es um die Störung des Systems, was danach kommt, spielte keine Rolle – ganz anders als Liberale und Konservative, die ständig nach Alternativen suchen, vorgehen. Das zeigt, dass wir auf einer neuen Stufe angekommen sind, die der Weltwirtschaftsordnung vielleicht gefährlich werden kann. Noch kommt die Störung von rechts, aber bald wird sie auch von links kommen.
Das Interview führte Rosa Gosch
Aus dem Englischen von Karola Klatt