Vergessen tut gut
Wir sind nicht immer Herr unserer Erinnerungen – aus gutem Grund
Wir sind unser Gedächtnis, in einem fundamentalen Sinne: Die tiefgreifendsten Aspekte unseres Selbst – unsere Identität, unsere Autobiografie, unsere emotionale Architektur und unsere sozialen Beziehungen ñ sind abhängig vom Gedächtnis. Wenn man sich nicht mehr an das erste Wort, das man gesagt hat, erinnern kann, während man das zweite ausspricht, wie soll man dann etwas Sinnhaftes erzeugen und kommunizieren? Wenn das, was man eine Sekunde zuvor gesehen hat, in dem Augenblick vergessen ist, in dem man seine Augen bewegt, um die Umgebung zu erfassen, wie kann man dann Wissen erwerben und beurteilen?
Unser Leben entsteht aus dem Zusammenspiel unserer Erfahrungen und der Erinnerungen, die wir an sie haben. Metaphorisch gesprochen, ist die Erfahrung unsere Arbeit und die Erinnerung unser Zuhause. Wir bewohnen unser erinnerndes Selbst. Eine wundervolle Erinnerung an etwas, das nie wirklich geschehen ist, macht uns glücklicher als ein wundervolles, aber vollkommen vergessenes tatsächliches Ereignis.
Das Gedächtnis ist aber keine Videokamera, die unsere Lebensereignisse filmt und die Filme in einem Archiv auf?bewahrt, damit man sie später wieder ansehen kann. Das Erinnern ist vielmehr ein aktiver Prozess der Rekonstruktion. Erinnerungen sind faktisch fiktionale Erzählungen: Sie wählen die Materialien unserer Erfahrung aus, bearbeiten und arrangieren sie so, dass sie kohärente und sinnvolle Berichte ergeben. Als Erzählungen aber unterliegen sie immer einer bestimmten Sichtweise. In der menschlichen Erinnerung ist der Originaltext immer verloren gegangen. Nur Interpretationen bleiben übrig.
Das Vergessen wird oft als das Versagen der Erinnerung angesehen. Aber das ist es nicht immer. Vergessen und Erinnern fungieren, in gewissem Ausmaß, als Teile eines ganzheitlichen, adaptiven Systems, wie Wachheit und Schlaf. Das Vergessen kann sogar hilfreich für das Gedächtnis sein. Die Fähigkeit, unwichtige Bestandteile einer Szene zu vergessen, kann uns dabei helfen, uns an die essenziellen Bestandteile zu erinnern. Das Vergessen kann auch eine nützliche soziale Funktion erfüllen. Wenn ich die Erinnerung daran, wie mich jemand verletzt hat, in aller Intensität und Eindringlichkeit bewahre, bin ich möglicherweise nicht in der Lage, dieser Person zu verzeihen und das Geschehene hinter mir zu lassen.
Die psychologische Forschung hat vier Grundtypen des Vergessens identifiziert. Der erste ist die Störung beim Speichern. Sie tritt ein, wenn wir die neue Information nicht auf sinnvolle Weise mit unserem bestehenden Wissen verknüpfen können: Wenn man sich nicht die Zeit nimmt, das Boot richtig am Steg zu vertäuen, wird es über Nacht aufs Meer hinaustreiben.Der zweite Grundtyp ist die Interferenz, zum Beispiel, wenn ich bei einer Party auf eine Birgit treffe und mir deshalb der Name von Brigitte nicht mehr einfällt, der ich kurz darauf begegne, oder umgekehrt. Der dritte ist die Störung beim Abrufen, wenn wir keinen Zugang zu einer bestimmten Information erlangen können, obwohl wir wissen, dass sie da ist: Das Geld liegt im Safe, aber wir haben den Schlüssel verloren. Und schließlich gibt es das psychologisch motivierte Vergessen, einen Schutzmechanismus, der dazu dient, uns vor unangenehmen Gefühlen zu bewahren ñ etwa, wenn man praktischerweise einen Zahnarzttermin vergisst. Diese Art des Vergessens hilft uns auch dabei, unser Selbstbild und das Narrativ über uns selbst angesichts unpassender Informationen intakt zu halten: Wir erinnern uns an die schönen Momente unserer Hochzeitsreise, nicht hingegen an die kleinen Streitereien oder an das nervtötende Schlangestehen am Hotelbuffet.
Sowohl das Erinnern als auch das Vergessen neigen zum Ungehorsam. Oft vergessen wir das, woran wir uns erinnern möchten, und erinnern uns an das, was wir vergessen wollten. Unsere Erinnerungen gehören zu uns wie Kinder; wir helfen mit, sie zu formen und zu führen; wir können von ihnen profitieren und uns zeitweise an ihnen erfreuen. Aber ihre Motive bleiben uns oft verborgen und ihr Tun ist uns rätselhaft. Weder kennen wir sie zur Gänze noch können wir sie völlig kontrollieren. Dies wirft eine Frage auf, die zugleich aktuell und zeitlos ist: Wenn wir nicht Herr über unser eigenes Erinnern und Vergessen sind, wer ist es dann?
Aus dem Englischen von Caroline Härdter