Was bleibt?

Im Staub der Metropolen

Über Städte, die sich ständig verändern – und jene, die bleiben, wie wir sie in Erinnerung haben

In meiner frühen Jugend hatte ich manchmal ein unerwünschtes Erlebnis. Während ich in der Schule war, räumte meine Mutter die Möbel in meinem Zimmer um. Dort, wo das Bett gestanden hatte, stellte sie den Tisch hin, an die Stelle des Tisches kam, wer weiß warum, ein Sessel. So traf ich, wenn ich nach Hause zurückkam, einen Raum an, der dem vorherigen nur ein wenig glich, es schien, als müsste ich an diesem Ort ein vollkommen neues Leben anfangen. Ich kämpfte schwer gegen diese Gewohnheit meiner Mutter. Sie war eine Frau mit viel mehr Phantasie, als man von der Gattin eines bescheidenen Verkäufers von Haushaltswaren erwartet hätte. Es gab keine Rettung; ich stellte fest, dass sich das menschliche Schicksal unaufhaltsam verändert.

Vielleicht gibt es in der Stadt meiner Kindheit noch heute, nach vielen Jahren, solche Mütter, möglicherweise lebt dort noch immer ein kleiner Junge, dem man mit einer derartigen unerwünschten Veränderung in seiner Wohnung zusetzt. Dennoch stellte ich vor kurzem bei einem Besuch in Belgrad fest, dass sich ein Teil der Altstadt, jener der zur Donau hin abfällt, nicht geschlagen gibt, wenn auch jemand Eigensinniges beschlossen hat, sein Wesen im Innern umzukrempeln. Von außen steht alles da wie vor achtzig Jahren. Unveränderlichkeit, Dauer und die sogenannte „Ewigkeit“ haben einen Makel, die Gesichter dieser unveränderlichen Dinge erhalten eine Patina, die Fassaden bröckeln allmählich ab und werden grau, weil all dies in einer Stadt geschieht, welche die Masern der Transition durchmacht, man weiß nicht, wie lange diese Kinderkrankheit Osteuropas dauern wird.

Dann gehe ich auf die andere Seite der Stadt, die zur Sava hin liegt, die noch verwahrloster und in ihrer Architektur unversehrt ist, nur ist der Staub auf dieser Gegend der Metropole neueren Datums. Wäre er älter, hätte ihn der Wind der Zeit bereits weggeblasen. Über diesen Belgrader Stadtteil kursieren Gerüchte: Hier werde man zusammen mit reichen Leuten aus dem Nahen Osten ein neues Jerusalem errichten, mit Türmen und Minaretten. Und diese, empören sich die alten Belgrader, würden die alte Vedute der Stadt mit dem Siegesdenkmal des berühmten Bildhauers Ivan Meštrović verdecken. So wenig mir, wie zu der Zeit, als meine Möbel von der Hand meiner Mutter hin und her geräumt wurden, der Sinn nach Veränderungen dieser Art steht, empfinde ich hier eine stille Freude. Nichts Besseres verdient das serbische Volk, als dass dieser nackte Bronzebursche mit seinem Schwert verdeckt wird, damit es sich auf diese Weise von seiner Siegeseuphorie befreien kann. Schon vor einem halben Jahrhundert hat ein großer Dichter dieses Volkes behauptet, Denkmäler solle man für den einmaligen Gebrauch errichten, sie anschauen und genug! Das würde bedeuten, dass man sie aus einer unbeständigen Materie erbauen müsste, am besten aus Schnee.

Längst habe ich den Ort meines langen Aufenthalts verlassen. Ich habe Belgrad durch Städte im Norden ersetzt, zuerst durch Berlin, zeitweise auch durch andere. So sind ihre Veduten in meinem Geist haften geblieben, wenn auch einige von ihnen, die in Wroc?aw und Warszawa, nach völliger Zerstörung neu errichtet worden waren. Das heißt, es gibt auch äußerlich unveränderliche Gegenden – die aber dennoch verändert wurden: die nur durch starken menschlichen Trotz neu hergestellt wurden und nach einer grausamen Katastrophe wieder die alten sind.

Es gibt mancherorts die Absicht, eine völlig andere Umgebung zu schaffen, ohne jede Verbindung mit der vorherigen. So hat die Neuheit des Potsdamer Platzes in Berlin fast nichts mehr mit dem vormaligen Raum dort zu tun. Für mich, der ich diesen Platz nicht erlebt habe, als dort in der Mitte ein Verkehrspolizist in Weiß die altmodischen Omnibusse und die Hartflügler von Urautomobilen dirigierte, für mich ist das heute eine eher artifizielle Szenographie aus Metropolis von Fritz Lang oder aus nicht realisierten Projekten von Mies van der Rohe.

Freud hat festgestellt, dass in der menschlichen Natur ein unbestreitbarer Instinkt besteht, nach dem alles unverändert bleiben soll, selbst in Verhältnissen, die nicht die glücklichsten sind. In der Stadt seines Lebens, Wien, die im Grunde erhalten, unverändert ist, sehe ich das auch bei mir. Als ich zum ersten Mal dorthin kam, fiel mir das kindliche Markenzeichen der Firma aus Solingen, die miteinander verbundenen siamesischen Zwillinge, ins Auge. Ich weiß, als Sohn eines Eisenwarenhändlers habe ich dies, in Belgrad und anderswo, schon mehrmals gesehen. Ist es denn möglich, dass das ganze märchenhafte Wien für mich plötzlich in dieses kleine Zeichen gepresst war, nur weil ich dadurch nietzscheanisch die „ewige Wiederkunft“ in etwas Bekanntes, bereits Existierendes und Altes erlebte?!

Städte ändern sich indes so und so, weil unvermeidlich alles fließt, wie es in dem Ausspruch des griechischen Weisen Heraklit heißt. Und das ist, sehe ich jetzt, auch im Kopf meiner phantasiebegabten Mutter geschehen. Es geht nicht mehr nur darum, ein altes Gebäude aus der Zeit des Zweiten Reichs oder der Weimarer Republik abzureißen, damit an dieser Stelle ein Glaspavillon für den Verkauf von Autos in die Höhe sprießt. Auf diesen rekonstruierten, neu angelegten oder bis zum Wahnsinn verbreiterten Straßen stellen die Menschen die Neuheit dar, jene, die in ihrer Eigenschaft als neue Nomaden auf ihnen kreuzen. Die meisten sind bucklig, denn jeder hat einen Rucksack auf dem Rücken, mit dem er uns anderen, ohne Rucksack, anrempelt.

Ich persönlich mag nichts in meinen Taschen haben, nicht einmal einen Stift, das, was man notieren sollte, merke ich mir, und wenn ich es mir nicht merke, heißt das, es war nicht wert, dass ich es behalte. Deshalb kann ich nicht begreifen, dass jeder dieser neuen Menschen ein Fläschchen mit Wasser bei sich tragen muss, als wäre er in der Wüste. Früher gab es überall Brunnen, heute gibt es Bistros, aber nein!, sie lieben es, mit diesen Fläschchen zu hantieren, mit denen sie jedoch bloß ihr Nomadenzubehör vergrößern, fehlen nur noch Kamele. Dann die Handys. Manchmal denke ich, um mich streichen nur Schwerverrückte herum, die Selbstgespräche führen. Danach stelle ich fest, dass sie durch unsichtbare Mikrofone, die sie ans Hemd gesteckt haben, doch mit einer fernen Person sprechen. Das ist also das Wesentliche bei den städtischen Veränderungen bei uns in Europa.

Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber