Ein bisschen London
Indien kopiert britische Baudenkmäler und streitet über seine koloniale Vergangenheit
Am nordöstlichen Stadtrand von Kolkata, wie die Hauptstadt Westbengalens seit 2001 offiziell heißt, erhebt sich neben der Straße zum Flughafen ein dreißig Meter hoher Uhrturm. Der Turm ist eine Kopie von Londons Wahrzeichen, Big Ben. Wie dieser ist er im neugotischen Stil gehalten. Die Turmuhr hat vier Ziffernblätter und ein Glockenspiel. Allerdings fehlt dem Big Ben in Kolkata die Westminsterabtei an seiner Seite; stattdessen befindet sich neben ihm ein kleiner See. Das Big-Ben-Replikat wurde erst vor kurzem, im Oktober 2015, von Mamata Banerjee, der Ministerpräsidentin des Bundesstaates Westbengalen, höchstselbst eröffnet, die 2011 die 34 Jahre an der Macht befindliche kommunistische Regierung zu Fall gebracht hatte. Sujit Bose, ein Abgeordneter aus Banerjees Partei, erklärt: „Der Turm ähnelt Big Ben. Er hat ein Aluminiumskelett und die Baumeister haben Fotos von Big Ben aus dem Internet als Vorlage benutzt.“
In New Town, einem anderen Stadtteil von Kolkata, wird ein weiterer Uhrturm gebaut. Die Regierung von Westbengalen möchte außerdem das London Eye nachbauen, Londons berühmtes Riesenrad. Statt an der Themse wird es am Ufer des Hugli stehen. Mamata Banerjee, die auch liebevoll „Didi“, „große Schwester“, genannt wird, sieht sich viel Spott seitens der Opposition ausgesetzt, weil sie Kopien britischer Bauwerke in der Stadt errichten lässt. Schon zuvor war sie heftig von ihren politischen Gegnern attackiert worden, weil sie angekündigt hatte, Kolkata in ein „zweites London“ verwandeln zu wollen. Zu diesem Zweck hatte sie in der Stadt mithilfe britischer Experten für Straßenbeleuchtung dreiarmige Straßenlaternen nach dem Vorbild der Laternen im Cambridge Garden installieren lassen.
„Didis“ Kolkata hieß unter britischer Herrschaft und im postkolonialen Indien lange Zeit Calcutta, deutsch Kalkutta, bis es von der linksgerichteten Regierung des Bundesstaates in „Kolkata“ umbenannt wurde. Man war der Ansicht, dieser Name klinge mehr wie „Kalikata“, wie die Stadt auf Bengalisch genannt wird. Kalkutta war bis 1911 die Hauptstadt von Indien. Bis heute zeugen das Indische Museum, der Marmorpalast und das Victoria Memorial von der Kolonialzeit. Aber auch in anderen Städten Indiens finden sich Bauwerke in neugotischem Baustil aus der Zeit der britischen Kolonialherrschaft: in Mumbai das Rathaus aus dem Jahre 1835 sowie der Victoria-Bahnhof, den der Architekt Frederic William Stevens nach dem Vorbild des Londoner Bahnhofs St. Pancras entwarf. Er gilt manchen als das schönste Beispiel der Kolonialarchitektur. In Varanasi, dem parlamentarischen Wahlbezirk von Premierminister Narendra Modi, befindet sich das Queen’s College, ebenso ein neugotisches Baudenkmal.
Die architektonischen Hinterlassenschaften der Kolonialherren sind schon seit langem Stoff für die Forschung. „Architektur war eines der wichtigsten Mittel, die die Kolonialisten einsetzten, um eine neue soziale und politische Ordnung zu etablieren und auf diese Weise ihre kolonisierten Untertanen zu kontrollieren“, schreibt Felipe Hernandez, Professor für Architekturdesign an der Universität Cambridge, in seinem Buch „Bhaba for Architecture“. Ein Einheimischer, der Student Vishal Rana, verleiht offenbar derselben Ansicht Ausdruck, wenn er sich beklagt, dass heutzutage „Kopien der Kolonialarchitektur“ vom Geld der Steuerzahler erbaut werden. „Einige unserer führenden Politiker scheinen auf seltsame Art in einem komplexen psychologischen Drama befangen zu sein, was dazu führt, dass sie britische Architektur als Teil der Stadtplanung kopieren. Es fällt ihnen schwer, sich von den nostalgischen Erinnerungen an die britische Kolonialzeit zu befreien.
Es hat oft den Anschein, als wollten sie die Kolonialregierung nachträglich wieder aufwerten“, sagt Amithabh Bhattacharya, ein junger Maler mit einer Leidenschaft für die Architektur von Kolkata. „Ich habe nichts gegen die Architektur aus der britischen Ära und habe mich gegen die Versuche von Radikalen gewehrt, einige dieser ästhetisch hochwertigen Baudenkmäler zu zerstören. Aber jetzt moderne Kopien historischer britischer Bauten zu erschaffen, ist eine zutiefst fragwürdige Praxis“, meint Prashanta Chattopadhy, der in den 1990er-Jahren Bürgermeister von Kalkutta war. Viele sind der Ansicht, dies sei die Art, wie die führenden indischen Politiker ihre Erinnerungen an die Kolonialzeit wiedererwecken, 68 Jahre nach der indischen Unabhängigkeitserklärung, und zwar aus keinem anderen Grund als aus „reinem Populismus“.
Im Hauptquartier der Gemeindebehörde von Kolkata ignoriert derweil Bürgermeister Sovan Chatterjee diese Welle der Kritik und scheint es überaus eilig zu haben, „Didis“ Projekte in die Tat umzusetzen. Der Bürgermeister ist verantwortlich für die Straßenbeleuchtung und die Stadtverschönerung. Er sagt: „Die kommunistischen Machthaber haben Kolkata im Dunkeln gehalten. Wir haben sie gestürzt. Unsere Staatschefin, Mamata Banerjee, sagte ,es werde Licht‘ und nun haben wir dieses schöne Straßenbeleuchtungssystem. Didi ist eine Visionärin.“ Kritik, dies sei Ausdruck einer „kolonialen Mentalität“, tut er als „sinnlose Kampagne der Opposition“ ab.
Nie war diese Liebe zur britischen Regierung offensichtlicher als in der Lobrede auf Großbritannien, die der frühere Premierminister von Indien, Manmohan Singh, 2014 in Oxford hielt, als ihm eine Ehrendoktorwürde verliehen wurde. „Man kann mit Nachdruck sagen, dass Indiens Erfahrung mit Großbritannien segensreiche Auswirkungen hatte. (…) Unsere Rechtsauffassung, unsere rechtsstaatliche Verfassung, unsere Pressefreiheit entstammen alle dem Schmelztiegel, in dem sich eine Jahrtausende alte Zivilisation mit dem mächtigsten Imperium der damaligen Zeit vereinte. (…) Alle (unsere) großen Institutionen, die aus der britisch-indischen Verwaltung hervorgegangen sind, haben dem Land gute Dienste erwiesen“, so Singh. Diese veränderte Einstellung gegenüber dem kolonialen Erbe von Seiten eines hochrangigen Politikers mag der Grund sein, weshalb die Kongresspartei, der Singh angehörte, ihr eigenes Parteimitglied, den Kongressabgeordneten und früheren Minister Shashi Tharoor, im Juli 2015 scharf attackierte, weil dieser sich kritisch über die ehemalige Kolonialmacht geäußert hatte.
In einer Rede vor Mitgliedern der Oxford Union Society hatte Tharoor gesagt, dass die Rücksichtslosigkeit der Kolonialherren Indien seiner „wirtschaftlichen Macht, seiner Autonomie und seiner Freiheit im fundamentalsten Sinne“ beraubt habe. Er begründete dies damit, dass Indiens Anteil an der Weltwirtschaft bei der Ankunft der Briten 23 Prozent betragen habe. Als die Briten das Land verlassen hätten, habe er bei weniger als vier Prozent gelegen. Der Grund dafür bestünde darin, dass Indien zum Wohle Großbritanniens regiert worden sei. Der Aufstieg Großbritanniens sei mehr als zwei Jahrhunderte durch die Plünderung Indiens finanziert worden, war Tharoor überzeugt.
Für diese Äußerungen wurde der Politiker heftig von indischen Historikern angegriffen, die das Gegenteil behaupteten: Eisenbahnlinien, Straßen, das Bildungssystem und die politischen Überzeugungen, die Indiens Regierung heute vertritt, seien ein Erbe der Kolonialgeschichte. Eine Gruppe von Historikern, angeführt von Dr. Rao, verteidigte die Kolonialregierung mit dem Argument, die Unberührbaren hätten nach der Unabhängigkeit niemals eine Chance in der indischen Gesellschaft gehabt, wenn die Briten nicht den unterdrückten Kasten Indiens 1935 zu einem Sonderstatus verholfen hätten, der bewirkte, dass ihrer Entwicklung Priorität eingeräumt wurde.
Angesichts solch erbittert geführter Debatten um die Rolle der Kolonialmacht und ihres Vermächtnisses wundert es kaum, dass die junge Generation im heutigen Indien der Zeit der britischen Herrschaft mit gemischten Gefühlen gegenübersteht. Die Kolonialregierung hatte Indiens Heimindustrie zerstört, um einen Markt für importierte Waren zu schaffen, löschte die sozialen Institutionen der Einheimischen aus und verübte Massaker wie das von Jalinwalabag 1919, bei dem Hunderte von Indern, die für die Unabhängigkeit demonstrierten, getötet wurden.
Dennoch ist die kollektive indische Psyche geneigt, die britische Kolonialregierung milde zu bewerten, weil die indischen Spitzenpolitiker nach der Unabhängigkeit 1947 nicht in der Lage waren, auch nur den bescheidensten Anforderungen an eine Regierung zu genügen. Sie erwiesen sich als ineffizient, geleitet von Parteiinteressen und korrupt und trugen so zum Scheitern der Hoffnungen des neuen Indiens bei. Die Fremdherrschaft mag schlimm gewesen sein, aber Indiens eigene Regierung war auch nicht besser. Die Verzweiflung darüber mag dazu geführt haben, dass die britische Kolonialregierung in einem günstigeren Licht erscheint, und einige unserer heutigen Politiker versuchen, sich beim Volk beliebt zu machen, indem sie diese Nostalgie schüren – mit wehmütigen Reden und falschen Big Bens.
Aus dem Englischen von Caroline Härdter